Wie alles begann...

Am Anfang war der Krebs...

 

 

 

Nein, das stimmt nicht. Früher habe ich geglaubt, dass "familiär vorbelastet" bedeutet, dass man in eine "Krebsfamilie" hineingeboren wird. Dass man aufwächst mit dem Wissen um diese Tatsache und sein Leben lang dankbar und achtsam ist und...

 

 

 

Aber so war es nicht...

 

 

 

Hättet Ihr mich vor 20 Jahren gefragt - so hätte ich geantwortet, dass Krebs immer nur die anderen bekommen. Dass MEINE Familie da nix mit am Hut hat. Dass wir sowas nicht kriegen. Klar, es gab eine Geschichte von einer Großtante, die an Krebs gestorben war, aber das war eeeeeeewig her. (Eine hochdramatische Geschichte von zwei Schwestern, die in den selben Mann verliebt waren, einer blutjungen Frau, die in ihrem Hochzeitskleid beerdigt wurde; der älterer Schwester, die dann für immer ledig blieb und zwei kleinen Kindern, die ohne Mutter aufwuchsen) Ich denke, ich kenne die Geschichte überhaupt nur, weil sie jedem Kitschroman die Schau stiehlt...

 

Ansonsten: Keine Gefahrenzone, kein Krebs . Wir doch nicht!!!

 

 

 

Aus meiner Sicht begann alles mit einer Grippe. Meine Mutter nahm Antibiotika, diese halfen nicht, anderes Antibiotikum, half auch nicht. "Komisch verschleppter Virus" sagten wir. Es war so ungefähr der letzte normale Gedanke in einem anderen Leben...

 

Es war sowieso eine Zeit des Umbruchs. Meine Schwester war ausgezogen. Mir ging es psychisch nicht gut. Ich tat mich im Studium schwer. Meine Mutter machte sich (na klar) furchtbare Sorgen um ihr kleines Mädchen und das machte (na klar) alles für mich nochmal doppelt so schlimm...

 

 

 

Kurz und gut, es lief alles mehr oder weniger normal, niemand rechnete mit irgendwas, als - aus dem Nichts - der Arzt meiner Mutter nach einer Blutuntersuchung so komisch in Hektik verfiel. Plötzlich hieß es "sofort" und "Termin für morgen früh" u.ä. *seltsam*... Meine Mutter war Arzt-Tochter, sie muss damals schon geahnt haben, dass etwas ernstes nicht in Ordnung war. Auch, dass sie meinen Vater mit zum Arzt nahm war MEHR als unüblich.  - Aber, ich war jung, naiv und glaubte krank würden immer nur die anderen und so ignorierte ich die Warnzeichen und die Diagnose traf mich wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel:

 

 

 

Krebs.

 

 

 

Und schon gestreut und das nicht zu knapp. Welche Hoffnungen er uns noch machen könne? fragte mein Vater den Arzt. "Vielleicht noch zwei Jahre". Mit einer verschleppten Grippe zum Arzt zu gehen und mit der Prognose "zwei Jahre" wieder heraus zu kommen - es ist mir unvorstellbar und es war zu viel für meine Mutter. In ihrer Verzweiflung richtete sie ihre Agressionen gegen den Arzt, der "So etwas" nicht hätte sagen dürfen... heute glaube ich, dass DAS bereits die Samthandschuh-Version war, dass meine Mutter im Prinzip mit einem beginnenden Sterbeprozess zum Arzt gegangen war. Aber ich greife vor...

 

 

 

Es war als hätte meine Mutter durch diesen einen Satz das Lachen verlernt. Und die Freude am Leben. Als hätte ihr der Arzt die gesamte Last der Welt auf einmal aufgeladen... Aber meine Mutter war eine sehr starke und sehr sehr sehr entschlossene Frau. Wenn sie sich etwas vornahm, dann setzte sie das auch durch!!!! Ob sie nun lachte oder nicht lachte, sich des Lebens freute oder nicht freute, sie war niemand der aufgab, niemand in der Ecke saß und heulte. Niemals!!!!! Wie sah die Therapie aus? - Operation. Chemotherapie?  Also dann los ...

 

 

 

Die erste Chemotherapie, die man ihr gab war "einigermaßen verträglich". Wer einmal eine Chemotherapie gemacht hat, der weiß, wie sich das anfühlt. Wer keine gemacht hat, der wird es sich nicht vorstellen können, egal was ich schreibe. Ich belasse es daher bei der Bemerkung, dass es den Umständen entsprechend  "einigermaßen ging". Wir waren alle geschockt und mit den Nerven am Ende. Meine Mutter fühlte sich schwach und schlecht, ich glaube inzwischen, dass es nicht "nur" die grauenvolle Diagnose war, sondern dass die Chemo zusätzlich auf die Stimmung schlug und sie sich bei 1000 Kleinigkeiten unfassbar zusammengerissen haben muss - wir werden es nie erfahren... 

 

 

 

Und trotzdem... ich weiß kaum, wie ich es beschreiben soll... Wäre ein Buchmacher aufgetaucht und hätte Wetten angenommen - ich hätte alles auf meine Mutter gesetzt, nichts auf den Krebs. Ich weiß nicht, ob ich es verständlich erklären kann. Aber meine Mutter war der stärkste Mensch, der mir je begegnet ist. Und zwar war sie aus eigener Willenskraft so stark. Was sie sich in den Kopf setzte, das setzte sie durch. Immer. Sie überlegte sich einen Weg und setzte ihn durch und wem das nicht passte, der hatte ein Problem, weil sie ganz ganz ganz sicher am Ende Recht behielt. So war sie. Immer gewesen. Und irgendwo in meinem Hinterkopf saß die Vorstellung, das werde jetzt wieder so laufen. Meine Mutter hatte IMMER ALLES gekonnt. Sie würde es jetzt wieder genauso machen. Würde sich vornehmen nicht zu sterben.  Und es einfach nicht tun...

 

 

 

Nach ein paar Monaten versagte das Medikament. Eine andere Chemotherapie wurde vorgeschlagen. Noch härter. Mit noch schlechteren Chancen... Die Uniklinik Heidelberg bot damals bereits das an, was heute Standard ist: Second Opinion. Meine Eltern fuhren in glühender Hitze unter laufender Chemotherapie quer durch Deutschland nach Heidelberg. Sicherlich hatten die noch einen besseren Vorschlag...

 

 

 

Wir setzten all unsere Hoffnungen auf Heidelberg. DIE wussten Bescheid. Sie würden sicherlich endlich einen vernünftigen Vorschlag machen. Denn schließlich fehlte ja "nur" der passende Plan. Den würde meine Mutter dann durchziehen und 99 werden ... Was denn sonst?

 

 

 

Der Vorschlag von Heidelberg war tatsächlich ein anderer als der des behandelnden Arztes, allerdings anders als wir uns das gedacht hatten.

 

 

 

Heidelberg riet zum Abbruch der Therapie! Aller Therapien. Das sei es nicht wert... Ich weiß noch, wie ich gedacht habe, dass die doch nicht allen Ernstes dafür Geld nehmen können, SOWAS vorzuschlagen... schließlich war meine Mutter dorthin gefahren um einen Plan zu fassen, wie man den Mist in den Griff bekam...

 

"Wenn man etwas tun wolle" so Heidelberg, sei "DAS die Therapie". Es gebe sonst nichts. Ich weiß nicht, ob ich es damals tatsächlich aussprach, oder ob es ein bloßer Gedanke war, der mich seitdem in meinen Alpträumen verfolgt "Ja, Natürlich will man was tun." - Ich habe mir diesen Satz nie verziehen. Werde es wohl auch nie...

 

 

 

Der Gedanke die Therapie abzubrechen wurde nicht weiterverfolgt. Ich weiß nicht, ob meine Mutter es in Erwägung gezogen hat, aber ich glaube es nicht. Ich glaube meine Mutter war der Meinung funktionieren zu müssen und daher jetzt gerade keine Zeit fürs Sterben zu haben... Es wäre typisch für sie gewesen...

 

 

 

Und so begann die nächste Chemotherapie.

 

 

 

Ich habe gerade selbst eine Behandlung hinter mir, die ich sehr bewusst mit Begriffen wie "Weg durch die Hölle" beschreibe. Ich bitte dies im Hinterkopf zu behalten, wenn ich sage, dass das was bei meiner Mutter dann folgte, das grauenhafteste war, was ich jemals gesehen habe, oder bitte - bitte - bitte jemals sehen werde.

 

Meine tapfere, starke, entschlossene Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, die Chemo zu ertragen - also ertrug sie sie. Auch hier reichen die Worte nicht aus um zu beschreiben, wie meine Mutter vor meinen Augen verfiel. Sie magerte ab, nur Bauch und Beine quollen auf, bis keine Kleider mehr passten und kaum noch die Füße erkennbar waren. Sie war so schwach, dass sie - trotz wildester Entschlossenheit sich nichts anmerken zu lassen - kaum ein paar Schritte gehen konnte. Sie litt unter grauenvoller Übelkeit und qualvollem Erbrechen. Und das alles ohne Hoffnung, heute würde ich sagen "ohne Sinn" - Was man ihr gab, war keine Therapie, die man durchsteht um sich danach besser zu fühlen. DIE THERAPIE war der Plan. SO sollte es bleiben. Bis zum Tod.

 

 

 

Ich erinnere mich an ein CT, das gemacht werden sollte. Zur Kontrolle. Das hieß Kontrastmittel trinken, aber meine Mutter bekam das Mittel nicht hinunter (genauer gesagt, blieb es nicht unten). Aber es "musste" sein. Für die Therapieplanung. Für die weitere Behandlung. Also trinken. Zwei Liter Kontrastmittel waren es, die geschluckt werden mussten. Und bei jedem einzelnen Schluck kam alles wieder hoch. Es war ein Beweis von Nervenstärke, wie ich ihn hoffentlich niemals wieder sehen (und hören!!!) muss, wie meine Mutter das Kontrastmittel schluckte. Schlucken. Brechen. Schlucken. Brechen. Bei jedem einzelnen Schluck. Zwei Liter...  Es ist über 10 Jahre her und ich habe das Würgen noch immer im Ohr und spüre die Verzweiflung... Meine Mutter gab nicht klein bei, wie sie niemals klein bei gegeben hatte. Sie fiel nicht in Ohnmacht, sie blieb wach. Sie schluckte das Kontrastmittel, nahm das CT und führte die Chemo fort. Aufgeben war - im wahrsten Sinne des Wortes - keine Option...

 

 

 

Im Nachhinein war es eine Erlösung, als die körperliche Verfassung meiner Mutter irgendwann keine Chemotherapie mehr zuließ. Sie, die niemals Schwäche gezeigt hatte, lag im Bett. Geschlagen, verloren, wie ein Häufchen Elend, nur Bauch und Beine wurden dicker und dicker vom Wasser. Als nächstes verfärbten sich die Augen tief gelb. Meine Mutter hatte Angst, aber niemand schien geeignet zum Reden. Immer war sie diejenige gewesen, die allen Lösungsvorschläge präsentierte. Jetzt war sie am Ende. Erst als ich meine Mutter so sah, begriff ich, dass meine Wünsche falsch gewesen waren. Dass nicht nicht-sterben das Ziel ist. Sondern Leben. Und dass zwischen diesen beiden vermeintlich so ähnlichen Zuständen ein himmelweiter Unterschied existiert.

 

 

 

Ich dachte damals oft an den "Herbsttag" von Rilke (Ich liebe Rilke) "Schenk ihnen noch zwei südlichere Tage"... Ich hatte aufgehört davon zu träumen, dass meine Mutter 99 würde. Ich wollte nur noch zwei, drei gute Tage mit ihr. Und einen raschen Tod.

 

 

 

Den raschen Tod hat sie dann jedenfalls bekommen. Es ging wahnsinnig schnell, zwischen Diagnose und Tod lagen gerade einmal 8 Monate...

 

 

 

Ich habe mich oft gefragt, ob es diese Bilder in meinem Kopf waren, die dafür gesorgt haben, dass ich den ersten Teil meiner Chemo, die EC, so unterirdisch schlecht vertragen habe, dass selbst die Ärzte erstaunt waren... Ich nehme es an.

 

Aber interessanterweise machen mir diese Bilder keine Angst vor dem Tod. Der Tod war nicht das grauenhafte damals. Das Grauen entstand durch das verzweifelte sinn - und ziellose Klammern an jede Minute Lebensverlängerung. Als sei jeder Atemzug ein Selbstzweck, egal wie teuer erkauft. 

 

 

 

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes

 

schwer und wie gebunden hinzugehn,

 

gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

 

 

 

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen

 

jenes Grunds auf dem wir täglich stehn,

 

seinem ängstlichen Sich-Niederlassen-:

 

 

 

in die Wasser, die ihn sanft empfangen

 

und die sich, wie glücklich und vergangen,

 

unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;

 

 

 

während er unendlich still und sicher

 

immer mündiger und königlicher

 

und gelassener zu ziehn geruht.

 

 

 

(Rilke: Der Schwan)

 

 

 

Liebe Franzi, Du schreibst, Du möchtest "das Leben verstehen". Ich weiß nicht so genau, was das ist "Leben". Aber ich kann Dir eins sagen:

 

Das was meine Mutter damals auf sich genommen hat um nicht zu sterben. DAS war es nicht...

 

 

 

Kommentare: 2

 

  • #1

 

Kasia (Samstag, 21 Januar 2017 16:07)

 

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Wunderschön geschrieben... und du bist genau so tapfer wie deine Mutter. Sie sieht es und ist sicherlich sehr stolz auf dich.

 

  • #2

 

Hertzhaus (Montag, 13 Februar 2017 17:31)

 

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Ich lese erst seit Kurzem hier... Das ist ein starker Text. Er macht sehr eindrucksvoll deutlich - förmlich körperlich spürbar -, wie bitter und schmerzhaft es sein kann, nicht loslassen zu können oder zu wollen. Ich kenne das aus eigenem Erleben. Ich habe trotz verzweifelter Gegenwehr meine Zwillingsschwester an den Brustkrebs verloren und erkrankte dann selber daran, während sie noch ihre letzte Abwehrschlacht führte.