#H Wie war's denn nun?

 

 

Chemotherapie.

 

Es ist nur ein Wort. Und es gibt zig verschiedene Medikamente und jeder verträgt es anders und es ist unbeschreiblich und...

 

Und dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - will ich es einmal versuchen ob ich nicht doch beschreiben kann, wie es für mich war. Weil ich noch nie eine Beschreibung gelesen habe, wo ich gedacht hätte "So war es." Und weil es eben nicht nur ein Wort ist. Sondern ein Ticket zur Hölle.

 

 

 

 

 

Ich hatte geglaubt, eine Chemotherapie sei so ähnlich wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt ohne Betäubung. Man macht sich bewusst, dass es sein muss. Also nimmt man sich zusammen, klammert sich an seinen Stuhl, sagt sich im Geist 720mal, dass es bald geschafft ist - und verlässt den Zahnarztstuhl mit einem Lächeln.

 

 

 

und fertig.

 

 

 

einfach oder?

 

 

 

Was ich dabei vergessen hatte war, dass die Chemotherapie nicht "nur" körperlich wirkt - sondern "ganzheitlich"...

 

 

 

Wir schrieben den 8. April 2016.

 

Ich war nervös aber fest entschlossen. Da man die Chemo nicht auf leeren Magen nehmen sollte hatte ich brav etwas gegessen. Ich fragte im Chemo-Raum ob ich eine Brechschale bräuchte? "Nein!!!" Sowas brauche man nicht... Statt dessen erhielt ich einen gemütlichen Lehnsessel, eine Decke und eine Tüte mit Medikamenten für zu Hause. "Just in case".

 

 

 

Okay, dann mal los. Das Medikament lief ein, ich machte noch Fotos von mir und dem Tropf (heute triggert dieses Bild bei mir die Übelkeit). Ich fuhr nach Hause und fühlte mich "etwas komisch". Nicht weiter wild... so wie "etwas gegessen, was gar nicht vertragen wurde". Später wurde mir übel. Ich nahm meine Übelkeitsmedikamente - nichts half. Mir war übel wie mir noch nie in meinem Leben übel gewesen war. Ü B E L. Ich rief im Krankenhaus an. Ob ich die Medikamente nicht genommen hätte? - doch. Alles genommen. Dann solle ich kommen. Ich lehnte ab. Ich war in absolut keiner Verfassung mich irgendwo hin zu begeben. Auch den Vorschlag per Krankenwagen zu kommen verneinte ich. Schon vom Gedanken auf einer Bahre die Treppe heruntergetragen zu werden, drehte sich alles und gleichzeitig kam mir ALLES hoch! Das Krankenhaus kannte solche Fälle und so empfahlen sie, mein Mann solle kommen. Man werde ihm Tabletten für mich geben. Mir war alles recht, also gemacht.

 

 

 

Das Medikament, was mein Mann mitbrachte, war ein sehr starkes Schlafmittel. Es knockt einen einfach aus. *zack* Schlaf. DAS war die Rettung.

 

 

 

Am nächsten Tag wachte ich auf und fühlte mich einigermaßen. Etwas flau, etwas schwummerig, etwas nicht-gerade-wie-neu... Naiv wie ich war, war ich stolz wie Oskar. *Haha*, diese Chemo-Horrorgeschichten waren halt doch von Weicheiern geschrieben. In WIRKLICHKEIT war es nämlich halb so wild!!! Ich war wohl aus einem anderen Holz geschnitzt als irgendwelche Jammerlappen. Und schließlich las man auch überall, das sei heute alles nicht mehr soooo wild... es gebe längst gute Medikamente gegen alles...

 

Es war Samstag, mein Mann hatte frei und so frühstückten wir gemeinsam und fuhren dann zu einem Ausflug mit Freunden. Mir ging es doch "gut"? Warum also nicht? Ich war etwas müde, fühlte mich leicht komisch, sollte viel trinken u.ä. das konnte ich doch alles mit ihnen ebenso...?

 

 

 

Ich denke noch oft an diesen Ausflug. Denke wie dumm und naiv ich war. Heute kommt es mir vor wie ein Abschiedsausflug. Von meinem alten Leben.

 

 

 

Als ich am nächsten Tag "aufwachte" war Schluss-mit-lustig. Ich bekam kaum die Augen auf, konnte keinen klaren Gedanken fassen, mir tat absolut JEDES Körperteil weh, ich hatte Beschwerden, für die mir die Worte fehlten, konnte mich kaum rühren und fühlte mich einfach nur g r a u e n h a f t. "Vom Laster überrollt" hört man manchmal. Und glaubt das sei ein Syonym für Gliederschmerzen und Abgeschlagenheit. Klar, hatte ich. Außerdem war mich schlecht, schwindelig, ich hatte Migräne, fühlte mich wie vergiftet und es kam noch so einiges hinzu, das ich absolut nicht zuordnen konnte. Ich wusste nicht, WAS nicht mit mir in Ordnung war. Ich fühlte mich beschissen. Punkt. Konkreter konnte ich es nicht sagen. Es war UNERTRÄGLICH. Und mir fehlten die Worte zu beschreiben WAS unerträglich war. Mein Gehirn funktionierte absolut GAR nicht (der geneigte Leser multipliziere bezüglich der Hirnfunktion seinen schlimmsten (!!!!!!!) Vollrausch mit 10 - und schummele dabei nicht wegen Unvorstellbarkeit!!!). Dies bedeutete, dass ich nicht formulieren konnte, WAS mir fehlte. Ich konnte nicht aufstehen. Konnte nicht sprechen. Konnte nicht denken. Konnte nur liegen und fühlen, das es NICHT ging. Es war nicht zu machen. Ich konnte das nicht. Und es gab keinen Ausweg.

 

Auf diese Weise verging der Tag. Ich war nicht wach und ich schlief nicht, ich lag apathisch und weggetreten in der Ecke, wusste nichts und brach vom Versuch zu trinken. "Drei Liter Wasser" hatte mir mein Onkologe eingeschärft. Und die Tabletten.

 

Mein Gehirn funktionierte nicht gut genug um zu zählen, wieviel Wasser ich denn nun intus hatte? Und wieviele Tabletten? Mein Mann hätte mir das Zählen sicher gern abgenommen, aber jedesmal, wenn ich den Gedanken gefasst hatte, ihn darum zu bitten - hatte ich vergessen WORUM ich bitten wollte. Und wenn ich wieder wusste, dass das PROBLEM war, dass ich zählen musste, wieviel Wasser ich trinke - hatte ich vergessen, dass meinen Mann bitten die LÖSUNG gewesen wäre. So verzweifelte ich über Wasser und Tabletten, ich lag halb wach und halb weggetreten im Bett, torkelte gelegentlich in Schlangenlinien zum Bad und ich hatte furchtbare Angst...

 

 

 

Ich weiß nicht, ob ich die Angst richtig erklären kann. Ich bitte zu bedenken, dass es war wie ein zehnfacher Vollrausch. JEDER Gedanke war ein Problem. Jeder. Ich funktionierte nicht mehr. Aber irgendwo in mir saß eine Stimme, die sagte "Dies hier ist WICHTIG, verdammt. Reiß Dich zusammen, Du stirbst, wenn Du das hier versaust!!!!!" und ich KONNTE mich nicht zusammen reißen. Konnte keinen klaren Gedanken fassen. Konnte meinen Mann nicht bitten mir zu helfen. Mein Unterbewusstsein meldete Todesgefahr. Und ich konnte nicht nach einer Lösung suchen. Konnte nur daliegen und Schmerzen haben und brechen und.... Also würde es für immer so bleiben. Ich, ein jämmerliches Häufchen Elend... Konnte nichts machen, nicht einmal sterben konnte ich, weil ich es versaut hatte... weil ich nicht stark und tapfer genug gewesen war, nicht gut genug vorbereitet sondern klein, schwach und und und... WAS hatte ich gerade gedacht??? - vergessen. - Ich musste mich zusammenreißen, dies war WICHTIG, verdammt, wenn ich mich nicht zusammenriss, würde...

 

 

 

Niemand, der so etwas nicht erlebt hat, kann ermessen wie unfassbar lang ein Tag sein kann. Aber vielleicht versucht ihr es mit einer Erinnerung daran, dass fünf Minuten manchmal absolut unzumutbar sind - wenn man z.B. vor der Toilette Schlange steht, oder schon 50Situps gemacht hat und "durchhalten" soll.

 

In dem Tempo in dem die Zeit ab dem 50. Situp vergeht, verging der Tag. Und im Gegensatz zur Sportstunde gab es die Möglichkeit "Ich kann nicht mehr" zu sagen und halt die sechs, den Tadel oder was auch immer zu akzeptieren, nicht. Das Medikament war drin, selbst wenn ich die Chemo abgebrochen hätte - es half nur warten, bis der Körper es abgebaut hatte. Ich KONNTE es nicht ertragen. Und es gab KEINE Alternative. Und jeder Tag hatte v i e r u n d z w a n z i g Stunden...

 

 

 

Ich "schlief" etwa zweiundzwanzig Stunden am Tag oder überhaupt nicht. Je nachdem, ob man diesen apathischen kopflosen Zustand als "Schlaf" werten will oder nicht. Es gab kurze Zwischenmomente, an die ich mich nicht erinnere... möglicherweise habe ich da geschlafen, ich weiß es nicht, aber ich habe auch mehrere Filmrisse in dieser Zeit. Das Bett habe ich jedenfalls nur verlassen um ins Bad zu torkeln, manchmal konnte ich das allein - manchmal musste mein Mann mich stützen. Habe irgendwie Flüssigkeit und Stückchen Banane heruntergewürgt (leere Blase macht blutige Blasenentzündung, leerer Magen macht übel, also "muss" es sein.).

 

 

 

Am nächsten Tag hatte zumindest die Übelkeit leicht nachgelassen. Migräne, Schwindel, Schmerzen überall und dieses *vergiftet* Gefühl waren unverändert. Und die Angst stieg. Ich war mir sicher nicht durch zu halten.  Noch fünfzehn Chemotherapien. Konnte das nicht. Konnte nicht tapfer sein, weil.... Warum nochmal gleich? - vergessen.... Was sollte ich tun? - Mir fiel keine Lösung ein, bestimmt gäbe es eine, aber ich konnte nicht denken... Ob mein Mann sich etwas überlegen könnte? - "Kannst Du mir helfen?" - "Klar, was soll ich tun?" - Tun?.... ja.... was.... tun...? Wo das Problem sei? fragte er. Aber immer wenn ich die Frage verstanden hatte, waren meine Gehirnkapazitäten verbraucht. Gleichzeitig Frage im Kopf behalten und Antwort formulieren ging nicht. Und wenn ich versuchte zu sagen, was ich dachte, verstand er nicht, was ich meinte. Ich, die ich als überdurchschnittlich intelligent galt und die "Schreiben" als Hobby angab, war überfordert damit meinem Mann, zu erklären, dass ich Schmerzen hatte. Oder dass ich fror. Obwohl er an meinem Bett saß und verzweifelt zu raten versuchte, wo das Problem war. Und DAS war ja nur DER Teil der Beschwerden, der sich in Worte fassen ließ...

 

 

 

So lag ich in einer unerträglichen Situation und hatte weder die Mittel mir eine Lösung zu überlegen, noch die Möglichkeit um Hilfe zu bitten... Erst jetzt weiß ich wirklich, was die Vokabel "Hilflosigkeit" bedeutet.

 

 

 

Ich erinnere mich daran, wie ich ein Abführmittel nehmen sollte. Vom Arzt verordnet mit dem Hinweis, es schmecke nicht besonders. Okay. Als er das gesagt hatte, hatte ich die Achseln gezuckt - ist ja nicht so, dass Medikamente gut schmecken müssen... Tjaja... aber natürlich hilft ein Medikament  nur, wenn man es drinbehält. Das Würgen setzte bereits von dem Geruch, ab der zweiten Einnahme vom Anblick der Flasche ein. Ich musste nur daran DENKEN, das dieses Zeug fällig war, schon würgte ich. Und es waren "dreimal täglich drei Löffel voll" verschrieben...

 

 

 

Ich bin eine Musterpatientin. Mein Ehrenwort darauf. Aber an dem Abend, als ich (die Bilder meiner sterbenden Mutter im Hinterkopf, die verzweifelt und sinnlos schluckte und brach,  schluckte und brach...) den Saft herunterwürgte, um ihn sofort wieder zu erbrechen, während mein Mann neben mir den zweiten Löffel voll abfüllte, da war meine Grenze erreicht. Ich verweigerte das Mittel. Ich würde es nicht mehr nehmen. Würde es nicht tun, was immer die Konsequenzen. Denn ICH würde so nicht enden. Was immer der Preis. Ich würde sterben, wenn nötig, vom Balkon springen, falls unvermeidbar. Aber ich WÜRDE mir DAS nicht antun. NIEMALS!!!

 

 

 

In dieser Phase reifte in mir der Entschluss meine Patientenverfügung zu überarbeiten. Und nötigenfalls bei Dignitas Mitglied zu werden. ALLES. Aber ich werde so nicht enden.

 

 

 

Nach fünf Tagen konnte ich das Bett verlassen und einen "Ausflug" in meine Küche in Angriff nehmen. Nach einer Woche schaffte ich es die Wohnung zu verlassen, nach zweien konnte ich zwei Straßen weiter meine Perücke abholen. Das Krankenhaus meinte, die Migräne sei untypisch gewesen, dies sei ein verdrehter Nackenwirbel schuld.

 

 

 

Ich redete mir ein, dass DAS das Problem gewesen sei. Alles halb so wild in Wirklichkeit. Pech halt. Ich ließ den Wirbel einrenken, die nächste Runde würde bestimmt viel einfacher verlaufen... Jetzt wusste ich ja was auf mich zukam. Jetzt war ich vorbereitet.

 

 

 

Ich machte mir einen Zettel, was ich zu tun hatte, bat meinen Mann mir das Wasser abzumessen und Tabletten zuzuteilen, darauf zu achten, ob ich fror oder Schmerzen hatte, für mich mitzudenken, bis ich wieder klar war, mir zehnmal am Tag zu versichern, dass das nur temporär sei -  atmete tief durch und ging es an.

 

 

 

EINE Chemotherapie war geschafft - sechzehn waren angeordnet. Ich ahnte nicht, dass meine zweite Chemo die schlimmste werden sollte...

 

 

 

 Kommentare: 1

 

  • #1

 

Eule Nr. 2 (Dienstag, 31 Januar 2017 06:54)

 

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*Nachtrag:
Ich möchte nochmal in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass DAS nicht das klassische Erleben einer "Chemotherapie" ist. Sondern MEINE Erfahrung. Ich hatte schlichtweg Pech bei Nebenwirkungen VOLL rein zu greifen. Ich kenne ehrlich Menschen, die durch die Chemo gesegelt sind, als sei es ein Schnupfen...
Ich will auch niemanden abschrecken (ICH würde es wieder tun und ich hab's erlebt!!!). Ich kann nur diese "Das ist heute alles halb so wild" Sätze nicht mehr hören. Weil es eben schon wild ist. Und weil ich die Lügen leid bin...