#Q Von grauen Mäusen, dicken Büchern - und vom Himmel

Ich bin ein Akademikerkind in fünfter Generation.

 

Bei Fragen zu französischer Grammatik, der industriellen Revolution oder Thomas Mann war man bei uns zu Hause richtig. Das lief dann etwa so: "Mama, was ist eine Celesta?" "Wie schreibt sich das?"

 

"C e l e s t a" *Tapptapptapp* Mama ging in's Wohnzimmer. Dort stand der Brockhaus in 26 Bänden. "Eine Celesta, Kind, ist ein Klaviaturglockenspiel mit breitem Tonumfang... Wurde von einem Herrn Mustel erfunden, der... Das Glockenspiel in der Zauberflöte z.B. wird auf einer Celesta... wollen wir nicht mal wieder in die Oper....?"

 

 

 

Meine Mutter "wusste" alles. Aber sie hatte wenig Sinn für Kosmetik und Co. Der Badezimmerspiegel war zum Kämmen und Zähne putzen. Kleidung war etwas damit man nicht fror. Und diese Eigenschaft "mehr Sinn für den Brockhaus als für die Mode", DIE habe ich von ihr. Als Teenager fand ich das oft blöd. Ich fühlte mich komisch, als meine Freundinnen anfingen Kontaktlinsen zu tragen (nur für mich war das nichts) - die coolsten Frisuren auftürmten (während ich nur Pferdeschwanz oder kein Pferdeschwanz hinbekam) und beim Make up wahre Kunstwerke erstellten (während ich zwar die Buddenbrocks gelesen hatte, bei mir aber immer der Lidstrich schief wurde).

 

Alle lasen Mädchenzeitschriften und Kosmetiktipps.

 

Ich war die mit der dicken Brille und dem dicken Buch. Hatte für Mode und Make Up weder Auge, Talent noch Geduld und so sah es dann halt auch aus. Nicht wie "Um-Gottes-Willen-wie-siehst-Du-denn-aus???" aber ziemlich unspektakulär.

 

 

 

Nein, Eitelkeit ist mir auch nicht fremd. Ja, ich sähe auch lieber jeden Tag bestmöglich aus. Klar. Aber ich konnte mich trotzdem nie aufraffen morgens eine Stunde ehr aufzustehen um mit frisch gefönten Haaren in die Schule oder zur Arbeit zu gehen, statt mit "Abends-gewaschen-und-mit-nassen-Haaren-ins-Bett"-Haaren... Denn SO wichtig war's mir denn doch nicht... SO hübsch war ich auch MIT dem ganzen Aufwand nicht, wozu dann der Stress... "Übung macht dem Meister",  "das muss man ausprobieren"...- und da ich nicht übte und nicht probierte, lernte und erfuhr ich es nicht.  Und so konnte ich es nicht, wenn es mir mal gefallen hätte... Selber Schuld. Stimmt.

 

 

 

Alle sagen sie tun das FÜR SICH. Um sich selbst schön zu fühlen. DARUM gehe es dabei... DESHALB sei es ihnen so wichtig.

 

 

 

Klar... Schön. Es liegt mir völlig fern jemandem sein gutes Aussehen madig machen zu wollen. Oder zu behaupten es sei den Aufwand nicht wert!!! Glückwunsch. Toll seht Ihr aus!!! Genießt es!!! Soll ich Euch fotografieren? Ich brauch nicht mit auf's Bild...

 

 

 

Nur ... Ich habe nicht das Gefühl, dass die Beauty-Queens in meinem Freundeskreis sich mit ihrer Schönheit wirklich besser fühlen als ich mich mit meiner Durchschnittlichkeit... Ganz im Gegenteil...

 

Ich habe eine Freundin, die die Chemotherapie mit Kühlhaube durchgezogen hat. Es war ein Versuch ihre langen blonden Haare zu retten. Kühlhauben sind ätzend. Es ist eine langwierige und äußerst schmerzhafte Prozedur. Sie nahm massig Schmerztabletten und biss sich durch. Und dank der Kühlhaube sind "nur" etwa 70% ihrer Kopfhaare ausgefallen, während wir anderen ohne Kühlhaube nach der 2. Infusion komplett kahl waren. (nach der letzten also quasi kahlkahlkahl schon Haar-Schulden hätten haben müssen...)

 

Nach dem Ende der Chemotherapie, als die 70% Haare nachzuwachsen begannen, musste meine Freundin ihre verbliebenen Haare dennoch abschneiden. Meine Haare wachsen schnell, es gibt keine Haarschulden. Und so trägt sie jetzt in etwa dieselbe Kurzhaarfrisur wie ich...

 

"Ich musste es wenigstens versuchen" sagt sie.

 

Ich verstehe, dass es für sie wichtig war. Weil sie so schön war mit ihren langen blonden Haaren!!! Also sie war WIRKLICH schön!!! EHRLICH!!!

 

Aber was hat es ihr gebracht? Eine widerliche Quälerei, die Haare sind runter und sie ist so traurig, dass die Haare weg sind, dass sie gar nicht richtig dazu kommt, sich zu freuen, dass die Therapie vorbei ist...

 

 

 

Ich fürchte, ich klinge gerade pseudo-cool, arrogant und was-weiß-ich. Und wenn ich jetzt noch schreibe, dass ich MIT FREUDE!!!!! noch ein paar Monate die Glatze, die Augenringe, die Chemohamsterbacken, die Blässe wie frisch-gestorben behalten hätte, wenn sie dafür ihre Haare behalten hätte, mache ich es wahrscheinlich nicht besser. Aber der Grund warum mir der Verlust meines Aussehens viel weniger naheging als der ihrer Haare ist nicht der, dass ich so'n edler selbstloser Mensch bin. Der Grund ist viel banaler:

 

SIE HATTE SCHÖNE HAARE.

 

SIE ist eine schöne Frau. (Immer noch - aber auf mich hört ja keiner!!!).

 

SIE steht die Stunde früher auf,

 

SIE verwendet Stunden auf MakeUp Experimente,

 

SIE hat ein Auge für Klamotten...

 

Sie HAT es einfach mehr verdient als ich... und sie HAT die @#$€%& Kühlhaube ertragen und es IST nicht fair, dass sie nicht wenigstens ihre schönen Haare behalten durfte, die ihr SO VIEL bedeutet haben und für die sie SO VIEL getan hat...

 

Soooo schön war ICH doch sowieso nie, dass es ein Alptraum gewesen wäre, dass ich eine Zeitlang schlecht statt durchschnittlich aussah. Wen interessierte DAS bitte?

 

 

 

Früher hätte ich wohl gesagt das Wissen, welche Farbe einem steht, und wie man Lidschatten aufträgt oder Flechtfrisuren flicht sei im Leben deutlich nützlicher, als das Wissen was eine Celesta ist. Hätte gefunden, dass Zeit und Energie in solch unnützes Wissen zu stecken eine Marotte unserer überdrehten intellektuellen Familie sei, denn es brauche bei Licht besehen ja nun irgendwie doch kein Mensch. Aber ich bin nicht mehr überzeugt. Ich glaube es war richtig gut für mich, das menschliche Bedürfnis nach der eigenen Schönheit nicht ständig so furchtbar wichtig zu nehmen. Schönheit ist soooo relativ. Und soooo vergänglich. Und irgendwie ist doch sowieso jeder mit sich unzufrieden... Aber diese Momente, wenn meine Mutter "Guck mal... Jetzt wissen wir das auch..." aus dem Brockhaus vorlas. Ich habe sie wirklich geliebt. "Sooooo interessant!!!! Was steht da noch???" Noch heute denke ich, wenn ich etwas interessantes höre manchmal "DAS muss ich Mama erzählen..."

 

 

 

Eine Celesta heißt übrigens "wegen ihres überirdischen Klangs" Celesta.

 

 

 

Also falls es einen Himmel wie im Bilderbuch geben sollte, dann sitzt meine Mutter jetzt auf einer Wolke - und sie hat auch im Himmel keine goldenen Locken und keine Geige. MEINE Mutter ist die mit dem großen Bücherregal. Und sie schlägt kurz nach, was das für ein Instrument ist, das der Engel dort hinten spielt... Da links neben der Celesta, DAS ist eine Theorbe. Gehört zu den Lauteninstrumenten und... Interessant, nicht wahr?

 

 

 

Grüße in den Himmel, Mama. Du fehlst mir.

 

 Kommentare: 1

 

  • #1

 

Mohnblume (Sonntag, 05 März 2017 22:29)

 

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Oh, Deine Mutter ist die mit dem großen Bücherregal? Dann hat meine Mutter sich einen Sessel dazu geschoben, ich bin mir sicher.

Ich habe irgendwie immer die Frauen in der Chemo bewundert, die es schafften, auszusehen als wäre nichts. In der Arztpraxis saß eine Frau neben mir, die mir erzählte, sie sei in der dritten EC. Bitte?!?? Sie sah aus wie das blühende Leben, das Makeup saß perfekt und die blonde Echthaarperücke war der Hammer, die hatte ich nicht bemerkt.
Ich stülpte mir nur ein Kopftuch über und schlich damit aus der Tür. Für mehr fehlte mir Energie wie Ehrgeiz. Erst als die Wimpern ausfielen hatte ich dann die Schnauze voll und arbeitete mit Augenmakeup - das sah nun einfach zu schräg aus.