#NN Ich erinnere mich...

...Ich erinnere mich an einen Spaziergang. Es war Winter und wurde früh dunkel und wir waren einfach irgendwo abgebogen und in keine gute Gegend geraten. Penner, Schnorrer, Junkies... der Bodensatz unserer Gesellschaft. 

 

Ich erinnere mich an den Gedanken, eigentlich ganz gut dazu zu passen - kreidebleich, mit Kortisongesicht, Glatze und in Schlangenlinien...

Wir spazierten herum und ließen uns nicht stören. - (wer im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, hat längst gelernt Schnorrern nichts zu geben.  Ich habe in Spitzenzeiten mal hochgerechnet, dass wenn ich jedem Schnorrer, den ich traf, einen Euro gegeben hätte - ich monatlich etwa so viel Geld verschenkt, wie Miete bezahlt hätte. - Man gewöhnt sich daran.)

"Nein" sagen. Weiter gehen.... "Was ich noch sagen wollte..." 

 

Aber plötzlich bat mich wieder einer um Geld. Und es war der Abgewrackteste von allen. Er war dreckig und kaputt, war völlig ausgemergelt und abgerissen.

Er hing ganz offensichtlich an der Nadel.

Bettelte ganz offensichtlich um Geld für den nächsten Schuss.

Und es eilte - ganz offensichtlich.

 

Ich kenne wie gesagt alle diese "Kein Geld für Drogen, das macht es nur schlimmer" Sprüche von Kindesbeinen an.

Hatte schon zig mal im Vorbeigehen abgelehnt...Hatte auch im Job schon so viel Elend gesehen... Kannte das längst...

 

Aber in seinen Augen sah ich die Angst vor dem Turkey.

 

- Und dieses eine Mal, sah ich etwas, das ich kannte:

 

Dieses Wissen was kommt.

Etwas unerträgliches.

Dieses "Ich KANN das nicht noch einmal. K A N N nicht."

Dieses "Ich tue ja alles was Du willst, aber bitte. Bitte. BITTE. Alles, ALLES nur das nicht!!! Nicht noch einmal..."

Und ich sah die Verzweiflung. Verzweiflung, darüber, dass es Menschen gab, die die Mittel hatten ihm DAS zu ersparen. - Menschen wie mich. - Was kostet eine Nadel voll H heutzutage? 50Euro vielleicht? Ich würde es doch nicht einmal merken, ob auf meinem Girokonto 50Euro mehr oder weniger standen...

 

Und ich erinnerte mich... 

Ich erinnerte mich an das Zimmer einer Ärztin ein paar Wochen zuvor. Wie ich dort saß und mühsam die Tränen zurückhielt (DAMALS konnte ich das noch) während ich bettelte, ob sie mich nicht sedieren könne vor der nächsten Infusion und für ein paar Wochen? - BITTE? Künstliches Koma, damit ich die Chemo durchhielte, ich S C H A F F E das nicht, sei mit meinen Nerven und Kräften völlig am Ende... und ich hatte doch erst zwei - und es fehlten noch vierzehn Infusionen... Ich könne nicht mehr, ehrlich nicht, sei nur ein Mensch...

Und ich erinnerte mich, wie die Ärztin, die selbst noch nie gespürt hatte, wie das Gift sich in die Gedanken frisst, wie es Körper und Geist übernimmt, bis nichts mehr  von einem übrig ist... Erinnerte mich, wie diese Ärztin, die gar nicht verstand wovon ich sprach, milde lächelte und "Sowas machen wir nicht" sagte.

Einfach deshalb, weil SIE, die das alles noch NIE erlebt hatte glaubte besser als ich zu wissen, was ICH ertragen konnte. Weil solche drastischen Methoden als  "unethisch" gelten...

UNETHISCH...

Wenn es unethisch ist, so was zu TUN, was ist es dann wohl so etwas zu LASSEN? Den Patienten wegzuschicken, allein und verzweifelt und auf dem Weg in die Hölle? Weil SIE die Macht hatte zu entscheiden, welche der Mittel im Medizinschrank sie für nötig befinden würde - und welche nicht.

Die Macht zu entscheiden, was ich ertragen können sollte - und was nicht... Dabei war es doch MEIN Körper. MEIN Risiko - aber eben NICHT meine Entscheidung ...

 

Ich war schon immer eine Zynikerin und ich hatte noch nie besonderes Vertrauen in die Halbgötter in weiß. Trotzdem hat mich diese Situation damals zutiefst erschüttert. Dass diese Menschen die Macht haben zu entscheiden, was ICH ertragen können muss, um die lebensrettende Therapie zu bekommen. Ich könnte auch sagen, sie hatte die Macht zu entscheiden, was ich ertragen können muss um überleben zu dürfen.

Nicht, weil es nicht anders GEHT. Es hätte sicherlich noch härtere Medikamente gegeben... Sondern weil SIE glaubte beurteilen zu können, was ICH ertragen KONNTE.

 

Ich habe Neuigkeiten für Sie Frau Dr. S.: Sie haben sich geirrt. Es WAR unerträglich. Ich komme nicht damit klar, komme darüber nicht weg und bekomme es nicht verarbeitet. "Wenn der Patient sagt, es tut weh, dann hat er Recht" sagte meine frühere Hausärztin gern.

Ja.

.... Und wenn der Patient sagt, "Ich ertrage das nicht", DANN erträgt er es nicht...

 

In diesem Moment mit dem Junkie stand ich auf der anderen Seite. Ich wusste, wie es ihm ging. Jedenfalls ansatzweise. Und ich wusste, wie unfassbar arrogant es ist in SO einer Lage das Geld nicht rauszugeben. Die 50Euro heimzutragen für schicke Schuhe, gutes Essen, Urlaub oder sonst irgendetwas unnötiges, anstatt einzusehen, dass niemand das Geld dringender braucht als der Junkie, der sich mit DIESEN 50 Euro noch ein paar Stunden Erträglichkeit kaufen will. Der mit diesem Geld noch eine kleine Weile nicht diesem unfassbaren Grauen ausgeliefert ist, dass in seinem ausgemergelten Gesicht mit den faulen Zähnen unter der Oberfläche lauert.

 

Was könnte wichtiger sein?

 

Nichts.

 

Gar nichts.

 

Und ganz sicher stand mir dieses "Es ist besser so, mit dem Geld hilfst Du ihm nicht" Gequatsche nicht zu, schließlich  war es doch SEIN Leben. SEIN Körper. SEINE Entscheidung, was er zun tun bereit war - und was nicht...

 

Ob ich dem Junkie den Inhalt meines Portemonais, (und am liebsten gleich noch Lederjacke, Ehering und Handy) gegeben habe, fragt ihr?

 

- Nein. Ich habe geheult und mein Mann musste mich wegbringen, aber ich habe es nicht getan. Nicht aus Arroganz. - Es war nicht meine Entscheidung, was er mit seinem Körper tun würde und was nicht. Die Entscheidung wieviele oder wiewenige Drogen er nehmen sollte ist nicht an mir. Ich rede da niemandem rein.

Auch nicht aus Geiz - wir hätten die 50 Euro verwinden können.

 

Ich habe es aus einem anderen Grund nicht getan:

 

Ich hatte Angst um meinen Verstand.

 

Unsere Gesellschaft funktioniert so.
Man gibt dem Junkie kein Geld für Drogen, der hysterischen Chemopatientin keine Überdosis harter Schlafmittel und dem minderjährigen Ausreißer keinen Alkohol.

Niemals.

Ich hatte das Gefühl, wenn ich mit DIESEM Grundsatz breche, dann kann ich hier nicht mehr leben. Passe ich hier nicht mehr rein. Muss auswandern und auf eine einsame Insel oder in den Urwald ziehen oder sonstwohin, wo ich keine Menschen mehr treffe, weil ich mit den elementarsten Regeln des Zusammenlebens gebrochen habe und mich weigere sie erneut zu erlernen.
Unsere Gesellschaft funktioniert so und wenn ich in ihr leben möchte, dann muss ich das akzeptieren. Muss mich diesen Regeln beugen und muss mir einen Platz im System  suchen.

 

Und der Junkie taumelte weiter zum nächsten Passanten, der ihn auch wieder abweisen würde und ich schleppte mich heim in meine vier Zimmer Wohnung mit Daunenbettdecke, Laptop und frischen Himbeeren im Winter.

 

Und der Junkie geistert durch meine Gedanken und ich werde ihn niemals vergessen...

 

Ich verstehe Frau Dr. S.: Es ging nicht anders...