#6 Eine Sekunde...

 

 

 

Es scheint Teil einer Krebserkrankung zu sein, dass es einzelne Sekunden sind, die alles verändern...

 

Nie werde ich sie vergessen... Die Sekunde der Diagnose ("Ich habe keine guten Nachrichten."). Die Sekunde, als es hieß "die Lymphknoten sind frei".

Die Sekunde....

 

Es war jeweils nur eine Sekunde. Eine Sekunde, die alles verändert hat...

 

 

Dass ich die Chemotherapie neoadjuvant bekam, beinhaltete zugleich das Privileg und das Problem, dass die Wirkung der Chemo im Ultraschall kontrolliert wurde.

 

Verlaufsultraschall.

 

Wenn ich angehenden Arzthelferinnen, Schwestern, Pflegern und wie sie alle heißen EINEN Rat geben dürfte: Es wäre der Rat, zu verstehn WIE unpassend der Satz "Sie brauchen keine Angst vor der Untersuchung zu haben" ist.

Ich weiß, es ist gut gemeint... Aber... Haltet uns doch BITTE nicht für bescheuert!!! Wie sollte man denn KEINE Angst haben, wenn es um ALLES geht? Um die Frage des eigenen Überlebens. Die Frage, ob man weiter an eine Zukunft glaubt. Um die Frage, ob es etwas gebracht hat, sich jenseits der eigenen Grenzen durch die Hölle zu quälen - oder ob alles umsonst war. Ob alles aussichtslos ist und man besser die Hoffnung aufgeben sollte.

 

Es war mein zweiter Verlaufsultraschall nach 11 Wochen Chemotherapie.

 

Ich hatte ALLES getan, alles. War völlig fertig, kroch auf dem Zahnfleisch, wusste nicht, wie ich es bis hierhin durchgestanden hatte, nur, dass es "eigentlich" jenseits meiner Möglichkeiten gelegen hatte. Jenseits meiner Fähigkeiten, jenseits aller Grenzen, die ich hatte - aber ich hatte es trotzdem getan.

Hatte durchgehalten.

Hatte "einfach" nur gewartet, bis es vorbei war.

Hatte "einfach" nicht "Ich kann nicht mehr" gesagt, obwohl ich nicht mehr konnte.

War "einfach" durch die Hölle gegangen, statt aufzugeben, für diesen einen Moment. 

 

Alle Hoffnung, alle Wünsche, alle Gedanken - in einer einzigen Ultraschallaufnahme konzentriert.

 

B I T T E ... bitte...

 

Es waren zwei Ärzte, die schallten.

 

Ich habe lächerlicherweise vergessen, WER es tatsächlich war, ihre Namen und Gesichter sind im Nebel der Chemotherapie verschwunden. Ich habe vergessen, was es für ein Tag war, habe vergessen, ob ich allein hingegangen bin, habe alles vergessen. Mein Gedächtnis, was sonst z.T. Dialoge fast wortgetreu gespeichert hat, hat nichts davon behalten. Alles weg.

 

Ich erinnere mich nur an eine einzige Sekunde.

 

Nachdem der Arzt gesagt hatte, es sehe gut aus, guckte die junge Assistenzärztin nochmals. Sie schallte und schallte, guckte und guckte. Ich fragte sinngemäß, ob sie sicher seien, dass alles weg wäre - ob das bedeute, dass ich eine Party geben dürfe?

 

Und die Assistenzärztin...

 

sah mir mit todernster Miene in die Augen ...

 

und sie nickte.

 

Einmal.

 

Ich frage mich, wie es möglich ist, sich an ein Nicken zu erinnern, wenn ich die Person, die genickt hat vergessen habe und ich weiß keine Antwort auf diese Frage.

 

Ich habe vergessen, wie ich wem davon berichtet habe und ich habe vergessen, ob ich erleichtert, oder erschöpft war. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. (Es war nach der 4.EC. Ich kann "eigentlich" nicht gelaufen sein.) Ob mein Mann dabei war? Ich weiß nichts von alledem, es ist weg. Alles.

 

Ich weiß nur eins:

 

Sie hat genickt. Hat genickt und ich bin sicher, wie ich selten sicher war: Es war ihr Ernst. Die Ärztin hat in diesem Moment geglaubt, dass alles gut wird. Dass ich gesund werde. Dass sie in dieser Sekunde einer zukünftigen Überlebenden in die Augen sieht. Und dass sie das Privileg hatte DAS zu verkünden.

 

Es kamen noch weiter Sekunden und weitere Menschen, die diesen Eindruck machten: "Alles ziemlich optimal gelaufen bei Ihnen" - "pathologische Komplettremission" - "Bei Ihnen kann man tatsächlich von einer Sicherheitsbestrahlung sprechen"- "Herzlichen Glückwunsch"...

 

Und so ist Krebs für mich vielleicht die Krankheit der Sekunden...

 

Sekunden, die ALLES verändern.

Sekunden in der Hölle, die länger sind, als man es sich je hätte vorstellen können.

Und Sekunden, die den Glauben zurückbringen. Den Glauben, dass es gelingen wird.

 

"Wir bekommen das weg" sagte ganz zu Beginn einer meiner Ärzte.

 

Hat er tatsächlich Recht behalten? - Ich bin seit einem Jahr und einem Monat durch die Therapie. Ein Jahr, ein Monat sind 34.214.400 Sekunden. Und ich glaube tatsächlich keine davon war so spektakulär, wie jene eine im Krankenhaus...

 

Vielleicht ist es ein Zeichen, dass das Leben mich wieder hat... dass eine Sekunde wieder nur einen Atemzug lang dauert und eben NICHT alles verändert...