#8 Die ollen Kamellen...

So ungefähr jeder den ich kenne hat irgendeine "als Kind wollte ich sooooooooo gerne... aber ich habe es nicht bekommen." Geschichte. Und so sind mir meine "als Kind wollte ich soooooooooo gerne... aber ich habe es nicht bekommen." Geschichten immer völlig normal vorgekommen.

 

Bis es mir irgendwann dämmerte:

 

So ungefähr jeder hat EINE solche Geschichte.

 

Ich hab so ungefähr tausend davon...

 

Ich kenne niemanden, der als Kind weniger durfte als ich.

 

Ehrlich, NIEMANDEN.

 

Ich durfte keine Barbie-Puppen, keine Glitzerhaarspangen, keine Mädchenzeitschriften, kein Make-Up und keine Jungengeschichten. Ich durfte nicht ins Kino (zu teuer) oder ins Freibad (zu gefährlich). Ich durfte keine Monatsfahrkarte für den Bus haben (die 2,5 Km von der Schule oder zu Freundinnen konnte ich doch wohl laufen???). Wir hatten drei Fernsehprogramme, weswegen MTV, Viva und was damals alles noch so cool war wegfielen und in die nächste größere Stadt fahren, wie meine Freundinnen durfte ich auch nicht. Ich durfte nicht fluchen, durfte nicht über Sex reden, durfte mich nicht wehren als ich gemobbt wurde, durfte keine Fetzenjeans tragen, durfte nicht...

 

Kurz: Gefühlt durfte ich NICHTS und wenn ich es heute betrachte, finde ich nicht, dass mich dieses Gefühl sehr getrogen hat. Ich durfte jedenfalls viel weniger als ALLE die ich kannte.

 

Wirklich VIEL weniger.  Und wirklich ALLE.

 

Es hat mir keinen Spaß gemacht, aber ich habe es hingenommen. Meine Mutter liebte mich. Sie war überfürsorglich und überängstlich und ich war traurig, wenn ich mal wieder nicht mit ins Freibad durfte... Aber so war sie eben, sie machte sich dann Sorgen, da konnte man nichts machen. Sie war gegen Barbie-Puppen und Glitzerspangen, gegen Gameboy, Walkman, PC-Spiele und Co... weil sie der Meinung war, es sei ihre Aufgabe mich vor sowas zu bewahren, damit ich was sinnvolleres tat.

Nun, das ist sicherlich blöd, aber kein Weltuntergang, stimmts?

Stimmt.

 

Aber eines Tages - ich muss etwa 16 gewesen sein - geschah etwas:

 

Wir hatten Schüleraustausch mit Frankreich. Die Austauschschülerin wohnte bei uns. Wir machten Ausflüge und solche Dinge.

Bei uns war mein Vater für die Küche zuständig und so packte er die Lunchpakete für die Austauschschülerin.

Mir fielen beim Anblick der Dinge die er ihr einpackte bald die Augen aus dem Kopf:

Marken-Schokoriegel (Verboten wegen "dieses ganze süße Zeug!")

Trinkpäckchen (Verboten wegen "schlecht für die Umwelt")

Kleine Chipstüten (Verboten wegen "das lohnt sich nicht im Vergleich zu den großen Tüten", während die großen wegen "iss nicht so viele Chips"  ausschieden.)

Bonbons

und und und...

Den ganzen Rucksack packte mein Vater mit Dingen voll, von denen ich seit Jahren hörte ich müsse doch VERSTEHEN dass "sowas" nichts tauge. Ungesund sei. Umweltschädlich. Und überhaupt.

Er fuhr die Austauschschülerin mit dem Auto Strecken, die ICH laufen musste. Er...

Er behandelte diese Fremde wie der Vater meiner Freundin seine Kinder behandelte...

Wie etwas besonderes. Etwas wertvolles, was ihm anvertraut war und für die das Beste gerade gut genug war.

 

*Oh*

 

Es gab Streit an diesem Abend, einen fürchterlichen lauten eskalierenden Streit (falls dies aus irgendwelchen wunderbaren Gründen die Austauschschülerin erreicht: E*** es tut mir leid. Ehrlich. Es war nicht Deine Schuld und Du musst Dich scheußlich gefühlt haben so zwischen die Fronten zu geraten!!!). Ich schrie und ich tobte. Ich hätte alles kaputt schlagen mögen, alles.

 

Denn beim Anblick von Schokoriegeln und Trinkpäckchen  habe ich es begriffen:

 

Es war gelogen gewesen. Mein Vater hatte mir nicht fünftausend kleine Freuden des Lebens vorenthalten, weil er DAGEGEN war. Er hatte nicht versucht mich zu SCHÜTZEN durch Abschirmen von Werbung und Trends, Popkultur und Süßigkeiten.

 

Er hatte einfach nur gedacht diese Dinge seien an mich verschwendet. Das sei nicht nötig. Sei übertrieben. War doch niemand besonderes. War doch nur ich.

Nur seine Tochter.

 

Ich muss an dieser Stelle ein wenig ausholen, weil mir sonst keiner glaubt. Mein Vater hatte kein einfaches Leben. Er hatte genauer gesagt ein beschissenes Leben, mein Großvater war im Krieg gefallen, als mein Vater noch ganz klein war. Meine Großmutter stand mit drei kleinen Kindern und buchstäblich NICHTS da es folgten Jahre von Hunger und Enge, unterkriechen bei Verwandten wo man still-ruhig-und-dankbar sein musste - für jeden Mist. Später ein herrschsüchtiger, cholerischer Stiefvater - es gibt auch Gerüchte von Misshandlung... kurz: Es muss ein ALPTRAUM gewesen sein.

Ein echter Alptraum.

Mein Vater hat (ich vermute aus seiner Kindheit) einen "Ich bin der wertloseste Mensch der Welt" Komplex behalten. Es stimmt wirklich: Er gönnt SICH nichts, gibt alles für andere. Alles. Und wer ihn nur flüchtig trifft, findet das REIZEND von ihm. Wie freundlich, großzügig, bescheiden und aufmerksam er doch immer ist...

 

Ja...

 

Zu allen... Und er ist umso netter, je flüchtiger die Bekanntschaft ist... Je schlechter man ihn kennt, je weniger man ihm nahesteht, desto mehr wird man mit Aufmerksamkeit überschüttet. In seiner Nähe hingegen wird gespart. "Ach, das ist doch nicht nötig..."

 

An jenem Abend mit der Austauschschülerin habe ich es begriffen:

 

Die Schokoriegel und Trinkpäckchen waren nicht für mich verboten, weil sie (vermeindlich) nicht gut für MICH waren. Sondern sie wurden nicht gekauft, weil ICH nicht wichtig genug für solchen Luxus war. Mein Vater hält sich selbst für den unwichtigsten Menschen der Welt... Und er dehnt diese "Unwichtigkeit" auf die Menschen aus, die ihm nahestehen.

Und so waren wir die zweit- dritt und viertunwichtigsten Menschen der Welt für ihn: Meine Mutter. Meine Schwester. Und ich.

 

Es ist über 20 Jahre her.

Mehr als mein halbes Leben.

Ich bin erwachsen, kann längst selbst entscheiden, welchen Luxus ich mir gönnen will. Ich habe einen Mann geheiratet, für den ich der wichtigste Mensch auf der Welt bin. Und wenn ich meinen Vater besuche, bin jetzt ICH der Gast, der mit Aufmerksamkeit überhäuft wird, denn ich bin selten genug dort.

 

Es ist vorbei.

 

Ich habe lange Zeit gedacht, es sei total idiotisch, wie ich noch viele Jahre später über irgendwelche Schokoriegel traurig bin. Habe gedacht, es sei nachtragend und gehässig meinem Vater Dinge vorzuwerfen, die er aufgrund seiner eigenen psychischen Probleme versiebt hat. Eigentlich denke ich all das immer noch.

 

Und trotzdem bin ich heute Nacht um 3.27 Uhr mit der Frage aufgewacht, ob ich nicht doch noch den Kontakt zu meinem Vater abbreche. Nicht weil ich SAUER bin, das ist es nicht. Das einzige was ich ihm vorwerfe, ist Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Alles andere war dann nur noch Pech. Er hat sein bestes gegeben, das habe ich nie bezweifelt.

 

Ich überlege, ob ich den Kontakt abbreche, weil ich es mir WERT bin.

Wert mich nicht mit Menschen zu umgeben, die mich einfach so für den zweitunwichtigsten Menschen der Welt halten dürfen.

Wert nicht einfach darüber hinwegsehen zu können, dass ich nach DER Kindheit erstmal ein paar Jahre mit nichts als Suizidgedanken und Depressionen verbracht habe.

Wert, nicht einfach "Ach, Schwamm drüber!" zu sagen als sei das alles nicht schlimm gewesen. - Ich hätte mich fast umgebracht, das ist SCHLIMM verdammt noch einmal!!!!

 

Wir haben doch ALLE "Als Kind wollte ich sooooooo gern..." Geschichten.

 

Dies ist meine:

 

Als Kind wollte ich sooooooo gerne das Gefühl haben wertvoll zu sein. Ich habe es nicht bekommen...