#10 Im Kinderwagen auf der Autobahn...

 

 

Meine Mutter war ein Unfall. Die Mutter fast vierzig, der Vater noch deutlich älter, hatte längst niemand mehr mit einem dritten Kind gerechnet, als sie geboren wurde. Mitten im Krieg in einer Bombennacht, im Keller des Krankenhauses geboren. Aufgewachsen im Krieg. Der Vater erst an der Front, dann in Gefangenschaft.

 

 

 

Die Geschichte ist eine Geschichte wie im Film. Mit drei Kindern floh meine Oma zu Fuß von Dresden ins Ruhrgebiet. Zu einer Zeit, als die große Tochter I***  mit 16 schon im Alter für Vergewaltigung, der Sohn J*** mit 14 alt genug war, dass man Angst haben musste, dass er noch als Soldat einkassiert wurde. Und dazu ein Kleinkind im Kinderwagen - meine Mama - die zwei Jahre alt war.

 

Mit plötzlich drei Kindern also schlug meine Oma sich durch den Krieg. Fort aus dem Ruhrgebiet, als dort die Bombardierungen so schlimm wurden, dass die Kinder einzeln verschickt werden sollten. Denn eins stand fest: Niemals!!!! Niemals, niemals, niemals wollte meine Oma sich von den Kindern trennen lassen, ohne zu wissen welches der Kinder wo in welcher Bombardierung starb.

 

"Dann lieber alle tot."

 


„Dann lieber alle tot“ war der Plan. Mit diesem Plan beginnt die Geschichte, wie ich sie in Erinnerung habe. Mit dem Entschluss meiner Großmutter das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die Kinder nicht zur Kinderlandverschickung zu lassen, sondern es gemeinsam zu versuchen. Gemeinsam zu fliehen – gemeinsam zu überleben, oder gemeinsam zu sterben.

 

„Vater schrieb: ‚Wenn möglich bleibt zusammen‘“ erzählt meine Tante. Er schrieb von der Front… eingezogen. Eingezogen, sonst wäre er ja auch da gewesen für sie. War im Kriegsdienst, nur deshalb hatte er meine Oma mit den Kindern verlassen… nur … angeblich hätte es Mittel und Wege gegeben. Es hätte angeblich noch Stricke gegeben, die man ziehen, angeblich noch Anträge gegeben, die man stellen, hätte angeblich noch Bittgänge gegeben, die man hätte tun können – um zu bleiben, denn meine Großvater war Arzt. Und Ärzte wurden auch in der Heimat gebraucht. "unabkömmlich" jedenfalls bis auf weiteres, jedenfalls erstmal, jedenfalls noch ein bisschen...

 

Jedenfalls.

 

Nach den Geschichten hätte mein Großvater das machen können, hätte er noch etwas bleiben können, hätte er…

 

Aber seines Erachtens tat "man" so etwas nicht. Es war Pflicht einzurücken und so rückte er ein. Nicht gern, nicht aus Überzeugung, das wohl nicht. Aber er tat es. Er ging fort und ließ Frau und Kinder zurück, obwohl es noch Wege gegeben hätte. Ich kenne diesen Teil der Geschichte nur aus den Erzählungen meiner Mutter, die sie ihrerseits nur aus Erzählungen kennt - aber ich glaube, meine Oma hat es ihm nie verziehen. Nicht, dass er nicht dort war. Alle Männer mussten an die Front, es wäre sicherlich nur ein Aufschub gewesen, aber dass er es nicht versucht hat. Dass er nicht  ALLES VERSUCHT hatte. Ob es nun schwer war oder leicht, ehrenhaft oder unehrenhaft, legal oder verboten war, alles versucht, bevor er gegangen war und seine Familie zurück gelassen hatte...

 

 

 

Und so war also der Mann an der Front und die Verantwortung für die Kinder lastete auf meiner Oma.

Lastete schwer.

 

Jeder Schritt, jede Entscheidung, jeder Tag eine Frage von Leben und Tod.

 

 

 

Zuhause im Ruhrgebiet konnte man nicht bleiben, - man schickte dort nach und nach die Schulklassen aufs Land um dem Bombenhagel zu entgehen. Also nichts wie weg – zu Verwandten oder Freunden oder Freunden von Verwandten – ich weiß es nicht mehr. Es muss Anfang 1944 gewesen sein, meine Mutter muss eineinhalb gewesen sein, als sie ins Ungewisse aufbrach.

 

Kaum dort angekommen feststellen, dass der Plan eine Illusion gewesen war – leere Versprechungen einer Tante, die zu viel redete - dass es dort weder Platz noch Babysachen gab, dass man nicht bleiben konnte. Also wieder zurück nach Hause ins Ruhrgebiet, wo man doch gerade geflohen war, wo alles eingepackt, eingelagert und verschlossen war. Die ganze Aktion natürlich klammheimlich, Flucht war ja verboten. Ausharren die Parole. Sieg oder Tod. Die Kinder nehmen und fortgehen war illegal gewesen, wie Diebe in der Nacht waren sie heimlich unterwegs. - Meine korrekte Oma, von der ich Begriffe wie „Richtigkeit schaffen“ gelernt habe, muss gelogen und verheimlicht und die Kinder zum Lügen und zur Heimlichtuerei angeregt haben. „Nur ein Besuch“ musste man rückwirkend zu rechtfertigen versuchen, während hinter verschlossenen Türen die Frage von vorne begann: Wohin gehen???

 

 

 

Ich kann nicht ermessen, was für ein Stress es gewesen sein muss, bis die vier schließlich im völlig überfüllten Dresden Unterschlupf fanden. Ein ehemaliges Gartenhaus hatten sie gefunden, hoch über der Stadt am nördlichen Elbufer. Meine Mutter ist nach der Wende noch einmal dort gewesen und da stand es noch genauso wie damals. Ich habe noch viel später selbst einmal danach gesucht, aber nichts gefunden. Vielleicht war ich aber auch nur am falschen Ort…

 

Und so lebten sie in Dresden als sicherem Hafen. Das Elbflorenz mit den Kunstschätzen werde niemand bombardieren erzählte meine Tante. Sie waren sich sicher.

 

Sie waren sich sicher und das Leben ging ja weiter, trotz Krieg und so ging J*** in der Dresdner Innenstadt zur Schule als der große Bombenangriff auf Dresden stattfand.

 

 

 

Wer einmal im militärhistorischen Museum Dresden gewesen ist, wird die Schneise vor Augen haben, die die Flugzeuge durch Dresden genommen haben. (Wer nicht dort war: Sehr sehenswert!!!) Dort begriff ich, was ich zuvor nie verstanden hatte: Wie es sein konnte, dass der Rest der Familie kaum etwas mitbekam von dem Inferno in Dresdens Altstadt, das in die Geschichte eingegangen ist.

 

Sie bekamen kaum mit, dass J***s (14 muss er da gewesen sein) Schule brannte. Sie bekamen nicht mit, dass alle Notfallpläne versagten, weil niemand mit einem derartigen Feuer gerechnet hatte. Sie bekamen nicht mit, dass die Kinder sich in den großen Garten flüchteten und dort dem Feuer entgingen. Sie bekamen nicht mit, dass die Mutter eines Schulfreundes die Jungen dort fand und nach Hause brachte. Bekamen nur den Feuerschein und den Qualm mit – und dass irgendwann J*** nach Hause kam. Schmutzig, erschöpft aber unversehrt. Den Flammen entkommen.

 

 

 

Der Krieg neigte sich dem Ende entgegen, das war ein offenes Geheimnis. Es gab immer weniger zu essen, der Schulunterricht wurde immer weniger, immer wildere Gerüchte kursierten in der Stadt. Die Russen kamen…

 

 

 

Oh Gott, die Russen…

 

 

 

Das Gartenhaus lag auf der „falschen“ Seite der Elbe. Wer Dresden kennt, kennt die Frage: Müssen wir über die Elbe?

 

Die Brücken hatten den Brand der Stadt überstanden, jedenfalls die meisten. Aber war das verlässlich?

 

Was, wenn die Soldaten beim Rückzug die Brücken sprengten, um den Feind aufzuhalten? Was wenn man zu lange wartete und dann nach der Sprengung der Brücken nicht mehr wegkam – nicht mehr nach Hause durfte?

 

 

 

Und wieder war es meine Oma, die kurz vor Kriegsende allein die Entscheidung treffen musste. Gehen oder bleiben? Flucht oder Ausharren?

 

 

 

Sie entschied sich zur Flucht. „Nach Hause“ ins Ruhrgebiet. Dort würden die Soldaten die westlichen Alliierten sein, dort würde es vielleicht gelingen I*** vor Vergewaltigung, J*** vor der Front, die Familie vor dem Untergang zu bewahren.

 

 

 

Nach Hause – in einer Zeit, in der alles zerbrach, das Land in Trümmern, das Schienennetz zerbombt, ins Ruhrgebiet, von dem man eigentlich nur eins wusste: Das eigene Haus gab es nicht mehr. Es hatte einen Volltreffer kassiert, was nicht eingelagert war, war verloren, wo immer man unterkommen würde: Die eigenen vier Wände würden es nicht sein.

 

 

 

Von Dresden nach Bochum sind es etwa 500 km. Ich habe die Strecke oft zurückgelegt. Mit dem Zug, mit dem Auto, mit dem Flugzeug. Und jedesmal habe ich dabei daran gedacht, wie meine Familie es damals gemacht hat. Ohne Auto. Ohne funktionierendes Eisenbahnnetz (Die wenigen Züge, die noch fuhren waren für die Soldaten reserviert.)

 

 

 

500km zu Fuß. Zwischen Bombenangriffen, Tieffliegerattacken durch zerbombte Städte, ohne Informationen, ohne Unterstützung. „Im Kinderwagen auf der Autobahn“ sagte meine Mutter gern.

 

 

 

I*** war 16, J*** war 14 und meine Mama war 2.

 

 

 

Für mich sind diese Kriegsgeschichten einer DER Punkte, die ich mit meiner Oma verbinde. Wir essen Abendbrot... und wenn meine Oma den Teller leer gegessen hatte, legte sie das Messer hin und sagte "Wie wir damals auf der Flucht waren...". Jeden Abend. Sie erzählte und erzählte. Vielleicht habe ich mein historisches Interesse aus diesen Erzählungen, vielleicht meine Liebe zu Geschichten. Denn ich war klein, damals. Zu klein um mich noch an alle Geschichten zu erinnern. Habe sooo viel vergessen. Zu klein um mich so lange konzentrieren zu können, ja eigentlich sogar zu klein um so lange auf sämtliche Aufmerksamkeit verzichten zu können. Aber wenn Oma erzählte, dann hörte ich zu.

 

Ich hatte als Kind oft das Bedürfnis bei spannenden Geschichten vorher zu wissen, wie es ausging. Konnte die Spannung nicht genießen, während ich dachte, dass Kasperle sicherlich gleich vom Räuber Hotzenplotz zur Strecke gebracht würde...

 

Ob ich auch DAS von diesen Kriegsgeschichten hatte? - Denn SIE konnten das leisten. Sie waren „eigentlich“ ganz schon heftig für ein dermaßen kleines Kind. Aber ich wusste eins: Ich wusste vorher, wie sie ausgehen würden.

 

Die Familie hatte es geschafft.

 

Sie hatten überlebt. Hatten die kleine E***, um die sich alle so gesorgt und die sie alle so beschützt hatten gemeinsam  großgezogen, bis irgendwann der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam, bis irgendwann ein neues Haus gekauft wurde, bis irgendwann I*** und J*** zum Studium fortgingen, bis irgendwann die kleine E*** selber groß war, studierte und zwei Kinder bekam, bis E*** irgendwann die Mutter zu sich holte…

 

Und so saßen wir jetzt um den großen Esstisch (den meine Oma über den Krieg gerettet hatte) und aßen Abendbrot.

 

Ich wusste es ganz ganz sicher: Ganz egal, was Oma gleich erzählen würde, egal wie gruselig die Geschichte war - auch diesmal würde J*** nicht in dem großen Feuer von Dresden sterben. Auch diesmal würde I*** nicht als Flakhelferin an die Front müssen. Auch diesmal würde die kleine E*** nicht verloren gehen, die Familie nicht bei einem Bombenangriff umkommen, der Vater nicht an der Westfront fallen... Auch diesmal würde der Räuber Hotzenplotz den Kasperle nicht halten können. Es würde gut ausgehen. Garantiert...

 

 

 

Aber wie es so ist mit alten Geschichten aus fernen Tagen. Wie es so ist, am Abendbrottisch mit Tee, Butterbrot und der Frage, wer morgen früh wann wo sein muss. - Sie sind nicht "real". Also, natürlich wusste ich, dass es so gewesen war. Wirklich gewesen. Aber es lagen etwa 40 Jahre Frieden dazwischen - eine Ewigkeit im Alter von vielleicht fünf... Es war soooo unwirklich damals in dem großen Haus meiner Eltern, in dem wir lebten. Meine Oma. Meine Eltern. Meine Schwester. Und ich.

 

 

 

Ich habe oft gedacht, dass Oma schreckliche Angst gehabt haben muss. Habe oft gedacht, dass es schwierig gewesen sein muss.

 

Aber manches... manches habe ich einfach hingenommen, wie man als Kind halt hinnimmt, dass Erwachsene Dinge können, die die Kinder nicht können.

 

"Im Kinderwagen auf der Autobahn".

 

Wie KANN man das? Zu Fuß von Dresden ins Ruhrgebiet?

 

Also, klar. Man setzt einen Fuß vor den anderen, schiebt den Kinderwagen. Klar, manchmal nimmt einen jemand ein Stück mit. (Es gibt eine unfassbare Geschichte, wie mein Onkel in dem Kinderwagen hinten an ein Auto gebunden wurde um mitzufahren, weil die Frauen die den Wagen fuhren keine "Männer" ins Auto lassen wollten...) Klar auf einem Teil der Strecke fuhren dann wieder Züge und klar, wenn man nur immer stur einen Fuß vor den anderen setzt, ist man irgendwann am Ziel.

 

 

 

Dass meine Oma Brustbeutel genäht hatte, für Geld und Papiere, die jeder unter der Unterwäsche trug und niemals niemals niemals ablegte. Dass man "möglichst oll" aussehen musste um kein verlockendes Ziel für Raubüberfälle darzustellen, weiß ich. I*** möglichst hässlich, damit sie nicht vergewaltigt wurde und J*** möglichst klein und kindlich, damit ihn nicht plötzlich jemand für wehrfähig hielt. Und niemals niemals niemals die kleine E*** aus den Augen lassen – die Geschichten von den Kindern, die allein in den Flüchtlingstracks herumirrten - verloren gegangen bei einer Bombardierung, zu klein um erklären zu können, wer sie warem - immer vor Augen. Zusammenbleiben um jeden Preis. „Dann besser ALLE tot.“

 

Aber wie haben sie es GEMACHT???

 

 

 

Meine Großmutter, die es von früher gewöhnt war Personal zu haben und keinen Handschlag im Haushalt selbst zu tun ging von Tür zu Tür – musste betteln um Schlafplätze und Essen für sich und die Kinder. 

 

„Geld war nicht das Problem“ weiß ich. Mein Großvater schickte ja Geld von der Front. Den Rest musste meine Oma dann irgendwie hinbekommen.

 

Ich habe mich früher nie "richtig" gefragt, wie meine Oma das über sich gebracht hat. 

 

Also es gab natürlich Geschichten von STRATEGIEN. "Arztgattin klingelt bei einer Arztfamilie" weiß ich. Weil man dann etwas Verbindendes hatte, was man nennen konnte... Und dass sie immer morgens beim Aufbruch um etwas zu Essen für den Tag bat, um dann Abends bei der Bitte um Schlafplätze sagen zu können, sie bäte nicht um Essen, sondern nur um Schlafgelegenheit... 

 

 

 

Aber die eigentliche Frage... Die Frage, wie MEINE OMA. Die mit den Hausmädchen und den Pelzmänteln. Mit den Perlenketten, die schon in den 1920er Jahren selbst Auto fuhr... Wie meine starke, stolze Oma, die niemals irgendjemandem irgendetwas schuldig blieb - alles sogfältig ausgerechnet und aufgeschrieben auf Heller und Pfennig, es musste korrekt ablaufen, seine Ordnung haben, alles und immer. Wie DIESE Frau es GEMACHT hatte. Betteln. Und DIESE Verantwortung. Diese Angst. Tag und Nacht.

 

 

 

DIE Frage ist immer offen geblieben. "So war das damals" sagte man. Oder "Es blieb ja nichts anderes übrig" oder sonst etwas... 

 

 

 

Ich habe mein Leben lang "So war das damals" als Antwort akzeptiert. Habe gedacht im Krieg sei das vielleicht irgendwie was anderes.

 

Habe gedacht, wenn alle anderen Flüchtlinge auch betteln, sei das eine Art Normalität im Ausnahmezustand... Ich habe gedacht... Schätzungsweise habe ich gar nichts gedacht.

 

Erst die Erfahrung mit der Chemotherapie hat mir gezeigt, dass solche Annahmen Unsinn sind. Man ist in Ausnahmesituationen exakt derselbe Mensch wie vorher. Die Dinge werden nicht leichter, "nur" weil die Zeiten hart sind. Man ist nur schneller bereit das unmögliche zu tun.

 

Wie man das mit der Chemotherapie macht?

 

 

 

Wie man es erträgt schon Tage vorher an nichts anderes denken zu können? Wie man den Wechsel aus Alpträumen und Schlaflosigkeit erträgt? Wie man zitternd und würgend das Taxi bestellt? Wie man mit Gewalt das Kinn hochreißt, die Tränen runterschluckt und im Taxi krampfhaft irgendwelchen Mist redet, damit der Taxifahrer bloooooooooooß nicht anfängt über Krebs zu reden? ("Ach ja, die Nachbarin meiner Oma hatte auch Krebs. Sie hat sich noch durch eine Chemo gequält, hat aber alles nichts genützt, sie ist dann auch gestor... *Oh* 'Wie MACHEN Sie das???'" *kotz*) Wie man mit einem Lächeln den Raum betritt? Wie man "Wir können" antwortet anstatt kreischend zu flüchten, wenn die Ärztin "Können wir?" fragt? Wie man dort sitzt und zusieht, wie Tropfen für Tropfen für Tropfen das Gift in die Adern läuft? Das Zeug von dem man schon weiß, dass es auch diesmal wieder unerträglich sein wird? Dass es nicht auszuhalten ist, dass es nicht geht, dass man denken wird, dass man es besser nicht genommen hätte, wenn es kein zurück mehr gibt?

 

Wie habe ich es gemacht?

 

Nun. Ich habe an meinen Mann gedacht. Den ich nicht verlasse, ohne es wenigstens VERSUCHT zu haben. Vielleicht wäre alles umsonst, vielleicht würde ich sterben. Aber es würde NICHT daran liegen, dass ICH nicht ALLES gegeben hatte. ALLES. Und mehr...

 

Und dann habe ich mit Gewalt das Kinn hochgerissen und es getan. Ob es nun ging oder nicht...

 

Ich vermute einen Eindruck bekommen zu haben, wie sie es gemacht hat. Die stolze Frau Dr mit dem großen Haus, dem Personal mit Ansehen und Geld, die ich das Privileg hatte "Oma" nennen zu dürfen...

 

Ich denke, sie hat ihren Kindern in die Augen gesehen. Der großen I***, die so klug und vernünftig war. J***, der - GottseiDank, GottseiDank recht klein für sein Alter war. Und der kleinen E***, zwei muss sie gewesen sein, die so schutzbedürftig war. Ich denke, sie hat ihnen in die Augen gesehen. Und sie wird nicht gewusst haben, ob es gelingen wird. Ob sie I*** vor den Russen (Vergewaltigungsgeschichten kursierten überall) J*** vor dem Ruf an die Front (in den letzten Kriegstagen zog man die Kinder ein) bewahren könnte. Wird nicht gewusst haben, ob sie morgen gezwungen sein würde, die Hand der kleinen E*** loszulassen.

 

Sie hat nicht gewusst, ob sie morgen alle von einer Bombe getroffen werden, hat nicht gewusst, ob sie überfallen und ausgeraubt würden. Sie hat es nicht gewusst. Sie hat es nicht gewusst, ich denke, nur eins hat sie gewusst: Sie würde die Kinder nicht hergeben, ohne es wenigstens VERSUCHT zu haben. Vielleicht wäre alles umsonst, vielleicht würden die Kinder morgen sterben. Aber es würde NICHT daran liegen, dass sie nicht ALLES versucht hatte. ALLES und MEHR. Und ich denke in diesem Wissen hat sie zitternd und würgend die Entscheidung zur Flucht gefällt. In diesem Wissen hat sie mit Gewalt das Kinn hochgerissen. In diesem Wissen hat sie gebettelt und gestohlen, hat gefroren und ertragen. Weil es egal wer, ob sie es konnte. Sie hat es einfach getan.

 

Hat nach Ende des Krieges die Kinder bei einer Frau untergebracht und ist allein vorgefahren eine Unterkunft zu suchen. „Da fuhren dann Züge.“ Sie hat darauf vertraut, dass die 16 jährige I*** sich um die beiden kleineren kümmern würde. „Eure Mutter seht Ihr nicht wieder“ soll die Frau jeden Abend gesagt haben. J*** soll Angst gehabt haben, dass sie recht hatte. Es konnte so viel passieren in jenen Tagen…

 

Ich denke damals wird es an I*** gewesen sein mit Gewalt das Kinn hochzureißen, wenn sie geantwortet hat. Auch jeden Abend: „Mutter kommt zurück. Und wenn sie zu Fuß kommt.“

 

 

 

 

Im Kinderwagen auf der Autobahn.

 

Meine Mutter hat meine Oma so sehr gebeten die Geschichten von damals aufzuschreiben.
Sie konnte es nicht. Meine Mutter hat meine Tante so sehr gebeten die Geschichten aufzuschreiben. Sie wollte es nicht.
Und so habe ich später meine Mutter immer wieder gebeten, doch wenigstens das aufzuschreiben, was SIE noch wusste. Sie hat es versucht, aber irgendwie wurde auch das alles nicht so recht...

 

Und so habe auch ich es schon zigmal versucht und war doch nie zufrieden. Denn es ist zwecklos zu versuchen zu rekonstruieren, wer wann wo gewesen ist. Sicher. Die Fakten sind belegt. Wir wissen, wann der große Brand von Dresden war und wann die Russen die Elbe besetzten. Sicherlich ließe sich herausfinden, wann das Haus den Volltreffer bekam und wo genau mein Großvater in Gefangenschaft war, auch die genaue Strecke ließe sich wahrscheinlich noch ermitteln, aber was würde es ändern?

 

 

 

Diese Geschichte handelt nicht von Zahlen und Fakten. Sie handelt von einer unfassbar starken Frau mit drei Kindern, die ein Wunder vollbracht hat. Die zweimal durch Bombenhagel, Krieg und Vertreibung die Familie zusammen gehalten hat. Zweimal mit Verstand, Geschick und Glück alle vor schlimmerem bewahrt hat. Und die ich das Privileg hatte noch erzählen zu hören... damals als ich ganz klein war… am Abendbrottisch. "Wie wir damals auf der Flucht waren..." Ich habe es nicht vergessen...