#11 Herzliches Beileid...

Ich sitze an einer Beileidskarte und weiß nicht, was ich schreiben soll...

 

"Herzliches Beileid"? - Es klingt gestelzt.

 

Soll ich die Vorzüge der Verstorbenen aufzählen? - Aber die kennen die Adressaten der Karte doch viel besser als ich?

 

"Aufrichtige Anteilnahme" ist nicht meine Wortwahl, denn so rede ich nie.

 

"Es tut mir leid" sage ich üblicherweise, wenn ich mich entschuldige - und an dem Tod bin ich nun nicht schuld...

 

Also was dann?

 

Ich sitze vor dem leeren Blatt und meine Gedanken schweifen ab... Damals... Als meine Mutter starb... Als ich die Beileidskarten bekam...Was wollte ICH lesen? - Ich weiß es nicht mehr, erinnere mich undankbarerweise nur daran, wie mich manche geärgert haben. "Es sollte Dich trösten, dass Deine Mutter keine Schmerzen mehr hat." lautete eine. - Es tröstete mich aber nicht. Mama war gestorben, als sei der Tod eine Niederlage gewesen. SIE hätte die Schmerzen genommen, wenn sie hätte wählen dürfen... Und so fand ich es anmaßend, wenn jemand sagte, dass es "besser so" sei. Selbst wenn - vielleicht insbesondere wenn - ich derselben Meinung war...

"Sei nicht traurig" schrieb jemand. - Das war schon fast lustig... Ich war IMMER traurig. Es liegt in meinem Wesen. Der Gedanke ausgerechnet zum Tod meiner Mutter damit AUFZUHÖREN war zu absurd.

 

... Ich sitze vor dem leeren Blatt und grübele. Alles Mist... Vielleicht sollte ich es lassen. Nichts schreiben, weil es nichts zu sagen gibt... Vielleicht sollte ich zur Beerdigung fahren... So wie damals...

 

Damals...

 

 

Ich habe eine Cousine, die ich kaum kenne. Sie heißt K***, ist über 10 Jahre älter als ich und wir hatten nie viel miteinander zu tun. Sie lebt im Ausland und ernsthafte Gemeinsamkeiten haben wir keine. Die Großeltern, die wir gemeinsam hatten sind tot, wir sehen uns alle Jubeljahre bei irgendeinem runden Geburtstag... und machen Smalltalk.

 

Man könnte sie für eine unbedeutende Fremde halten...

 

Wäre da nicht...

 

 

Meine Mutter war tot. An Krebs gestorben. Und wie das so ist mit Todesfällen: Während man noch weint und fassungslos ist und nicht weiter weiß... da steht die Beerdigung an.

 

Es gab irgendwelche Listen, wer eingeladen werden sollte. Irgendwelche Zu- oder Absagen und irgendwelche Anfragen von irgendwem... "Nur die Familie" hatte meine Mutter irgendwann mal gesagt. Und "ganz klein!"

 

Es war viel zu tun - Mama wäre es nicht recht gewesen, wenn etwas nicht geregelt wäre - und die Tatsache, dass mein Vater, meine Schwester und ich uns in NICHTS einig sind - aber FEST entschlossen waren nicht zu streiten - machte jede Kleinigkeit zur Grundsatzangelegenheit. Alles, absolut alles wollten wir einstimmig beschließen, niemanden übergehen und wenn es die ganze Nacht dauerte. Nur kein Unfrieden. Es war Mamas Albtraum gewesen, dass sich die Familie bei ihrem Tod zerstreitet... Wir würden ihr das nicht antun. Würden einen Kompromiss finden. Für alles.

 

Und so eierten wir herum. Brauchten Beerdigungsklamotten, suchten Urne und Grab aus, probten die Musik, organisierten das Essen, Trauerkarten, Blumen undundundundund... Alles mit stundenlangen Diskussionen zu allem. Erst wenn wir uns einig waren, wurde entschieden. Nur kein Streit, lass es und lieber noch ein siebzehntes Mal durchsprechen, wir finden ne Lösung...

 

Der Tag kam und ich hatte eine vage Ahnung, wieviele Personen wir sein würden. Ich hatte irgendetwas anzuziehen, hatte Blumen und brach beim Singen nicht mehr in Tränen aus... Ich war startklar...

 

Und wie ich so herumwuselte und dies noch und jenes noch - da stand sie in der Tür. K*** Meine Cousine, die ich zig Jahre nicht gesehen hatte. K*** die in London lebte und die extra gekommen war - gekommen, zur Beerdigung.

 

Ich weiß nicht, ob ich überhaupt irgendetwas gesagt habe. Und "Ich freue mich, dass Du gekommen bist." hätte es auch nicht getroffen.

Ich war absolut baff.

Wie lieb von K***.

Wie freundlich die Menschen waren.

Alle eigentlich.

Mama war fort, aber sie hatte uns in einer freundlichen Welt gelassen. Eine Welt, in der man sich um uns sorgte und Gedanken machte. Extra gekommen. Aus London. Wie lieb von ihr...

 

Es wurde eine schöne Beerdigung, fand ich. Ich mochte die Ansprache, die meine Tante hielt. Ich mochte es in der Kirche zu stehen, zu singen und zu wissen: Mama hätte es gefallen. Ich mochte, dass es uns gelungen war nicht zu streiten zu diesem Anlass. Und ich mochte, dass mein Freund mitgekommen war, weil er und ich alles zusammen machen würden - auch den Tod meiner Mutter. Ich erinnere mich an tausend Kleinigkeiten von diesem Tag und werde sie nie vergessen. Aber was mich mit am meisten beeindruckt hat, war diese eine Sekunde. Wie K*** im Flur stand. Extra aus London gekommen um uns beizustehen. Obwohl wir uns doch kaum kannten... Ich werde es nie vergessen, es ist zu einem Symbol geworden, dass manchmal - ja manchmal für kurze Momente die Welt zu einem freundlichen Ort wird. Einem Ort, wo man nicht streitet. Einem Ort, wo die Menschen zusammenhalten. Einem Ort, an dem die Menschen aus London kommen - einfach um ihre Anteilnahme zu bekunden, wenn man traurig ist.

 

"Man sieht die Leute mal wieder" hatte meine Mutter immer über Beerdigungen gesagt. Und dass das das Schöne daran sei. Ich hatte es nie verstanden, verstand es erst auf ihrer Beerdigung. Wir sahen uns einmal wieder, K*** und ich. Weil ich traurig war - und weil sie mir eine Freude machen wollte...

 

Ich hatte auch an jenem Tag den Cousinen und Cousins mit denen ich aufgewachsen war mehr zu sagen, als K**. Wie gesagt: Ich kenne sie kaum.

Trotzdem ist es ihretwegen, dass ich zu Beerdigungen fahre. No matter what.

Neulich wurde meine Tante beerdigt. Ich fuhr fast 400Km hin - fast 400km her zu dieser Beerdigung. Fuhr, obwohl ich keine Zeit hatte und es mir selbst nicht gut ging. "Onkel U*** konnte es kaum glauben" sagte meine Schwester später. Ich zuckte nur die Schultern, als sie das sagte, es war doch SELBSTVERSTÄNDLICH gewesen, dass ich hingefahren war... Aber im Nachhinein habe ich mich gefragt, ob es für ihn vielleicht so ähnlich gewesen ist, wie an jenem Tag für mich, als K*** im Flur stand. Sie war wirklich gekommen.

Unseretwegen.

Den weiten Weg...

 

"Aufrichtige Anteilnahme" "Herzliches Beileid" "In stiller Trauer"... Ich sitze hier vor der leeren Karte und weiß nichts zu schreiben. 

 

Um Anteil zu nehmen, fahre ich zu Beerdigungen, wenn ich eingeladen werde. Fahre egal wo sie stattfinden, egal ob ich Zeit habe no matter what. Ich fahre zu Beerdigungen, weil ich hoffe, dass ich, auch während ich nichts zu sagen weiß, den Menschen das Gefühl vermittele, da zu sein. Dass sie von Freunden umgeben sind und von Hilfe. Dass sie in einer freundlichen Welt zurückgeblieben sind. Und dass sie nur zu rufen brauchen und ich komme. Versprochen.

 

Ich hoffe, dass ich ihnen das Gefühl vermittele, was K*** mir damals vermittelt hat, als sie plötzlich im Flur stand.

Und ich denke, wenn es mir gelingt, dann geht es auch ohne Worte.

 

Es gibt schließlich nichts zu sagen...