#1 In tiefer Dankbarkeit

Auf meinen Nebelwanderungen blieb ich einmal im Morast stecken. Ich hatte das Gelände unterschätzt und plötzlich steckte ich bis zur Hüfte im Moor. Meine Lage war Recht unerfreulich, da die Gegend einsam war und ich mich in meiner Unterkunft für mehrere Tage abgemeldet hatte, mich dort also niemand vermissen würde. 

Ich rief um Hilfe - weniger, weil ich wirklich damit rechnete dass jemand mein Rufen hören werde - als vielmehr, weil  es sonst nichts zu tun gab. 
So war ich nicht wenig erstaunt, als ich aus dem Nebel auf mein Rufen hin doch eine Gestalt auftauchen sah. Es war eine Frau unbestimmten Alters - graublonde Haare, graugrüne Augen, in Gummistiefeln und mit Seilen und allerlei Ausrüstung beladen. 
Ihr Name sei Ugin, sagte sie und an dieser Stelle sei das Moor wirklich unangenehm, sie sei dort auch schon hineingeraten, das hätten wir gleich. 
Die Fremde baute aus dem Mitgebrachten eine Art Seilzug und befreite mich dann Millimeterweise aus dem Sumpf. Einige Zeit später stand ich also durchnässt, erschöpft und vor Kälte zitternd, doch ansonsten unversehrt neben ihr. Ich wollte ihr danken, doch sie winkte nur ab. Sei doch selbstverständlich. Die eigentliche Frage sei, was nun. Sie wohne nicht weit, allerdings... Ob ich mir DAS antun wolle? Sie sei nicht auf Besuch eingerichtet ... 
Du, mein geneigter Leser, wirst Dir vorstellen können, dass das Angebot bei mir auf überaus dankbare Ohren traf. Ich war durch und durch nass, Frost setzte sich in meine Kleidung, es war inzwischen stockfinster und meinen Kompass hatte ich auch eingebüßt. Ein Nachtlager bei dieser Fremden war mehr als Willkommen, ich konnte mein Glück kaum fassen. 
Meine Konversation war ein wenig eingerostet und sie schien sogar noch wortkarger als ich und so fragte ich hölzern, was sie hierher verschlagen habe und seit wann sie hier lebe. Ihr Gesicht wurde müde, sie schien um Jahrzehnte gealtert. "Für die Kinder" habe sie es getan, die sie nicht weggeben könne, auch wenn es schwierig sei mit ihnen, sehr schwierig. 
Ugin verfiel wieder in Schweigen und da ich mich für einen Tag genug blamiert hatte, schwieg auch ich. 
Sie lebte in einem kleinen Haus - kaum zu sehen im Nebel - als ich eintrat, waren drei Kinder zugegen. Etwa 5, 11 und 16 Jahre, die lautstark stritten. 
Meine Retterin zerrte die 5 jährige von der 11 jährigen weg und löste unsanft die kleinen Hände aus demHaar der älteren und sagte, sie habe Besuch mitgebracht. 
Schlagartig besserte sich das Benehmen der Kinder. Die 11jährige lief in die Küche, die 16 jährige murmelte etwas von Bettzeug, während die kleine sich zutraulich zu mir ans Feuer setzte. 
Das Haus war in der Tat in einem erbärmlichen Zustand und es tat mir weh zu sehen, wie Ugin sich wand vor Scham, wenn mein Blick über die Staubmäuse, das schmutzige Geschirr und die Wäscheberge glitt. 
Die Kinder stellten sich als Elke (17), Klara (11) und Ulrike (5) vor. 
Die kleine Ulrike brachte mir trockene Kleider, Klara servierte Suppe und Tee und Elke sagte, mein Schlafplatz sei vorbereitet. Alles mit dem gesenkten Blick ihrer Mutter, als müssten sie sich dafür entschuldigen, dass sie meine Lebensrettung nicht noch etwas komfortabler gestaltet hatten. Sie brachten mir alles was ich brauchte - und nahmen keinen Dank dafür. 
Als ich schließlich im Bett lag - offensichtlich war der Schlafplatz der beste im Haus, er schien eigentlich ein ständiger Zankapfel zu sein, doch man hatte ihn mir ohne zu zögern überlassen. "Nein DAS sei ja etwas anderes, jetzt sei ICH ja da, da brauche sie den Schlafplatz ja nicht" versicherte mir Klara - konnte ich nicht umhin darüber zu grübeln, wohin es mich verschlagen hatte und wie ich mich erkenntlich zeigen konnte. 
Offensichtlich hatte die Familie Sorgen - das Haus war in erbärmlichem Zustand, die Kinder schrieen im Schlaf und Ugin schien mit ihren Kräften und ihrer Weisheit am Ende. Ich beschloss daher noch einige Zeit dortzubleiben, alle näher kennenzulernen und zu helfen, wenn ich konnte. 
Mein vorsichtiger Vorschlag am nächsten Morgen traf auf wahre Begeisterungsstürme. Scheinbar hatte noch nie jemand ein freundliches Wort für diese guten Leute übrig gehabt. Sicherlich könnte ich dort etwas bewirken. 
Seit meiner Ankunft, schien der Rosenkrieg der Kinder beendet, ob sie vielleicht gar nur aus Langeweile gestritten hatten? 
Die kleine Ulrike hing beständig an meiner Hand, alle drei lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab. 
Ugin verschwand jeden Tag für mehrere Stunden im Nebel, sicherlich um ihrer Beschäftigung nachzugehen, während der sie die Kinder sich selbst überließ. Ich beschloss damit zu beginnen die Kinder anzuleiten in dieser Zeit etwas konstruktives zu tun. Wir putzten und räumten, ordneten und sortierten. Elke holte auf meine Anfrage Schulbücher herbei und so unterrichtete ich sie ein  wenig in Algebra und Grammatik. Die Kinder erwiesen sich als fleißig und wissbegierig. Elke mit einer rationalen Logik und Sinn für Naturwissenschaften  ausgestattet. Klara häuslich mit Sinn für Küche und Handarbeit, während die kleine Ulrike musisch begabt schien. 
Und so lange ich neben ihnen saß, tat jede der drei exakt, was ich wollte - aber sobald ich den Blick abwandte ruhte die Arbeit. 
Nun, eins nach dem anderen. 
Abends begrüßten wir Ugin mit einem aufgeräumten Haus - und sie lächelte zum ersten Mal und sagte, das sei wirklich, wirklich nett von mir. Wir saßen am Feuer, tranken Tee und Ugin taute merklich auf, etwas Gesellschaft schien ihr gutzutun.  Ich ging in dem Gefühl zu Bett, etwas gutes geleistet zu haben. Die Nacht kam und wieder schrien die Kinder im Schlaf, während die Mutter schlief, wie eine Tote. 
Am nächsten Morgen beschloss ich es noch einmal mit Fragen zu versuchen. Ugin verschwand wieder unmittelbar nach dem Frühstück im Nebel, wie es ihre Gewohnheit war und so befragte ich die Kinder. 
Die älteste schien schon Recht verantwortungsbewusst. Es gehe nicht gut mit den kleinen und Ugin, gab sie zu. Deshalb sei Ugin ja auch ständig so viele Stunden im Nebel, obwohl jeder sehen könne, wie müde sie sei. Elke erklärte, sie habe es sich zur Aufgabe gemacht, Ugin und die kleinen auseinander zu halten, damit Ugin ein wenig Ruhe habe. 
Elke trug schwer unter der Last der Verantwortung, sie schien fahrig und hypernervös und zuckte bei jeder Kleinigkeit zusammen. 
Nach dem Mittagessen sprach ich mit der jüngsten. Ulrike erklärte auf meine Nachfrage hin, Alpträume zu haben. Es lebten Dämonen in ihrem Haus, vor denen fürchte sie sich, es werde ein schreckliches Unglück geben, schrecklich... 
Nun sind fünfjährige natürlich noch sehr Phantasiebegabt, aber in ihren großen aufgerissenrn Augen lag echte Panik, so dass ich beschloss das Haus gründlich zu untersuchen. 
Ulrike und ich durchstöberten es daher Keller bis Dachboden. Ulrike schien Spaß an der Suche zu entwickeln kroch bereitwillig unter jedes Bett, guckte in jeden Schrank, die Angst dort einen Dämon zu finden, schien vergessen.  Und so war denn auch außer der Erkenntnis, dass die Kinder verwahrlosten, nichts zu finden. "Hier ist niemand außer Euch, Ulrike, siehst Du?" fragte ich die kleine befriedigt. 
Nie werde ich ihren Blick vergessen. Den Blick, als hätte ich etwas kluges gesagt. Den Blick, als werde ich gleich verkünden, dass der Weihnachtsmann gekommen sei, auf den sie so sehnsüchtig gewartet habe. Dieser Blick - der verschwand, als ich sagte, sie brauche daher keine Angst zu haben. Heute denke ich, dass ich das Unheil doch hätte kommen sehen müssen. Dass sie doch alle mit mir sprachen, dass ich lediglich zu vernagelt war es zu sehen...
Aber ich greife vor.
In diesen Tagen entstand in meinem Kopf ein Bild. Die Mutter überfordert, die Kinder verwahrlost. Und vor Angst, Scham und falsch verstandenem Stolz jeglicher menschlicher Mithilfe beraubt allein auf diesem gottverlassenen Fleckchen Erde. 
Wenn die Kinder ersteinmal regelmäßig zur Schule gingen, wenn der Haushalt ersteinmal so geordnet war, dass die Familie Besuch empfangen könnte. Wenn erst einmal... 
Die Kinder wurden während meines Aufenthaltes zusehends zutraulicher. Ulrike wollte auf den Schoß, Klara wich nicht von meiner Seite und Elke verlor den gehetzten Blick aus den Augen. Eines Nachts, als wir Mal wieder von Ulrikes Schreien geweckt wurden, gab ich ihnen ein Versprechen. Ich versprach sie nicht zurück zu lassen. Ich würde bei ihnen bleiben, bis wir eine Lösung gefunden hätten. Mein Ehrenwort. 
Jetzt hatte ich es geschafft. Selbst die rationale Elke war zu Tränen gerührt, Klara schluchzte, sie habe so sehr um jemanden wie mich gebetet, Ulrike hüpfte vor Freude und selbst Ugin umarmte mich, wurde gesprächig und aufgeschlossen. 
Ach, wenn ich nur geahnt hätte, welch Unheil ich über die Familie bringen würde, mit meinem naiven Versuch zu helfen... 
Am nächsten Tag beschloss ich Ugin zu begleiten. Ich übertrug Elke die Aufgabe die kleinen bei Hausarbeit und Schulaufgaben zu beaufsichtigen und brach nach dem Frühstück mit Ugin auf, gespannt, in was ihre Tätigkeit bestehen mochte. 
Ich erwartete irgendwelche kräftezehrenden Aufgaben und so war ich sehr erstaunt festzustellen, dass Ugin scheinbar ziellos durch den Nebel streifte. Stunde um Stunde um Stunde. Auf meine Fragen, warum sie das tue, antwortete sie, irgendetwas müsse sie ja tun, ich hätte die Kinder ja am ersten Abend erlebt, dort könne sie nicht bleiben. 
Mir war nach lachen. Die Kinder verwahrlosten, weil ihnen die Mutter fehlte und die Mutter streunte draußen herum weil die Kinder so verwahrlost waren? Das ging besser!!! 
Ich nahm Ugin gegen ihren vehementen Protest mit zum Haus und zeigte ihr die Ergebnisse. Klara kochte, Ulrike spielte Blockflöte und Elke brütete über ihren Rechenaufgaben. Das Kind schien wirklich ehrgeizig... Ich malte mir bereits aus, sie auf die Universität zu schicken, ihr sollten alle Türen offen stehen. 
Ugin lächelte. Sie sagte, das habe ich wirklich ganz großartig gemacht, es sei lediglich MEIN Verdienst. Alles sei gut, jetzt wo ich gekommen sei... 
Alle strahlten und lachten und ich sonnte mich in meinem Erfolg. Ugin ging weniger auf Nebelwanderungen und blieb mehr daheim. Sie räumte den Keller um, flickte das Dach und erledigte allerlei Arbeiten am Haus. Und sie alle wurden nicht müde mir zu versichern, das sei einzig und allein mein Verdienst... 
So verging die Zeit, bis ich begann rastlos zu werden. 
Meine Ankündigung bald weiterzuziehen, stieß auf regelrechte Panik. Elke starrte mich fassungslos an und Ugin fiel der Teller aus der Hand, den sie gehalten hatte. Ulrike bekam einen Tobsuchtsanfall brüllte und kreischte, ich hätte versprochen zu bleiben, bis sie allein zurecht kämen. Und jetzt lasse ich sie zurück und war kaum zu beruhigen. 
Wo hatten sie nur diese tiefsitzende Unsicherheit her? Ich sprach noch einmal mit allen. Jede Aufgabe, die anlag bewältigten sie doch längst allein. Trotzdem beteuerten alle, ohne mich verloren zu sein. 
Elke bekam wieder diesen panischen Blick und fuhr bei jeder Gelegenheit hoch, Klara schlafwandelte. Und Ugin. Ugin bat mich noch einmal eindringlich zu bedenken, was ich da tat: Sie zurück lassen. In dieser Lage... 
Ich beschloss es langsam anzugehen, wollte erstmal nur einen Tagesausflug machen. 
Er wurde zum Drama. 
Ulrike zündete das Tischtuch an, während Klara heulend und kreischend an meinem Bein hing. Elke saß mit versteinerter Miene da, während Ugin mit kreidebleichem Gesicht versuchte die Kinder zu beruhigen. Sie versicherte immer wieder, es müsse ja sein, sie dürften mich nicht aufhalten, das alles sei doch nicht mein Problem... 
Letztlich blieb ich noch einige Tage bis ich mich endgültig zum Gehen entschloss. Die Familie brauchte mich für nichts, sie konnten alles allein, mich hingegen zog es in die weite Welt. Sicherlich würde sich die Lage bald beruhigen, das Drama des Abschieds rasch abklingen, wenn ich fort war.
Ich küsste die Kinder zum Abschied, versprach einmal zu Besuch zu kommen, ignorierte Elkes Augenringe und Ulrikes Tränen, löste mit sanfter Gewalt Klaras Hände von meinem Bein... Und ging. 
Ich schritt heiter durch die neblige Welt, bis ich nach einigen Stunden das nächste Dorf erreichte. Im Geist plante ich bereits die Fahrt übers Meer, die ich mir vorgenommen hatte und träumte von den fremden Ländern, die ich bereisen wollte. Da es bereits dämmerte (die Tage waren kurz, die Nächte lang in jenen Tagen) beschloss ich über Nacht im Dorf zu bleiben und nahm ein Zimmer im örtlichen Gasthaus. 
Mitten in der Nacht wurde ich von Schreien geweckt. Als ich schlaftrunken nachsah, brachte man mir Ulrike. Blutüberströmt und völlig erschöpft. Was mochte geschehen sein? 
Da Ulrike auf meine drängenden Fragen keine Antwort wusste, nur unverständlich von Blut, Dämonen und Klara faselte, packte ich das völlig verängstigte Kind unter der Obhut der Wirtsleute ins Bett und eilte in den Nebelwald um die anderen zu suchen. 
Ich malte mir auf dem Weg durch den Nebel alle möglichen Räuberpistolen aus, aber nichts hat mich auf diesen Anblick vorbereitet: Auf dem Küchenfußboden, in einer Blutlache lag Ugins Leiche. In einer Ecke saß Elke. Kreidebleich aber gefasst wie immer. In ihren Armen lag die völlig aufgelöste und blutüberströmte Klara... und zu ihren Füßen das Küchenmesser, mit dem Klara immer das Gemüse schnitt. 
Was hatte Ulrike zum Thema Dämonen gesagt? 
 "Außer uns ist niemand hier" 
Ich stürzte hinein, schrie was denn nur passiert sei? 
Elke sah mich achselzuckend an. "Du hast Dein Versprechen gebrochen" sagte sie ruhig. "Was hast Du denn geglaubt, was passieren würde, wenn Du erst unsere Mutter hereinholst und uns dann mit ihr allein lässt? Wir haben es Dir immer und immer wieder gesagt: Das kam nur durch DICH. Wir konnten es nicht alleine..." 
Die nächsten Tage vergingen wie im Rausch. Polizei und Jugendamt. Betreutes Wohnen für Elke, Jugendarrest für Klara und tausende von Fragen für mich. Wie hatte das geschehen können? Was hatte ich getan? 
Tja... Was ich getan hatte? Ich hatte dieser Familie versprochen sie zu retten. Und als sie mir glaubten, da hatte ich sie zurück gelassen. Mit den für sie gefährlichsten Menschen der Welt. Sich selbst. 
Ulrike ist bei mir eingezogen. Es ist das letzte was ich tun kann. Ich schulde es ihrer Mutter, die mein Leben gerettet hat und die ich zum Dank dafür in den Tod gerissen habe. Jeden Abend erzähle ich Ulrike eine Gute Nacht Geschichte. Immer wenn sie schlecht träumt sitze ich an ihrem Bett. Ich werde sie nicht noch einmal verlassen. Allein, mit dem Dämon, den keiner sieht...