#13 Selbsterkenntnis und wunde Füße...

Ich sitze im Zug und betrachte die Nebelfetzen, die durch meinen Kopf ziehen... Was ist "Nebel", was ist "echt"? Was ist "gut" was ist "schlecht"?

 

Und was mache ich hier eigentlich gerade?

 

 

Ich war zum Wandern gefahren. Ein privates Selbstfindungsprojekt, sollte es werden. Ein paar Tage im Gebirge. Nur ich, die Berge und die Natur. Sonst nichts. Ich wollte zur Ruhe kommen, wollte nachdenken.... Wollte, dass keiner mir sagte, was ich tun oder lassen sollte - ich wollte allein sein, wollte niemanden sehen um auf die Stille zu lauschen.

 

Ich hatte die Strecke bewusst vage gelassen um alles genau so machen zu können, wie ich mich gerade fühlte. Ich wollte auf meine innere Stimme hören, wollte mich selbst finden.

Ach... was ich alles großartiges tun wollte, während ich die Berge durchstreifte. Ganz ganz ganz ganz großartig und das erfolgreichste Selbstfindungsprojekt überhaupt sollte es werden... und danach würde ich dann all diese tollen Sachen über mich wissen und damit weitere noch viel tollere Projekte machen und dann würde...

 

Mit diesen guten Vorsätzen im Kopf lief ich am ersten Tag so hemmungslos, dass ich bereits an diesem Abend wusste: Mein Vorrat an Blasenpflastern würde nicht lange reichen. Die Füße waren völlig kaputt. Ich musste Pflaster nachkaufen und natürlich war ich im Nirgendwo. Ohne Apotheke, ohne Drogerie, ja nicht einmal ein Laden war aufzutreiben. Ich gönnte mir ein teures Hotelzimmer und vertagte das Problem. Am nächsten Tag tat mir alles weh, aber ich ignorierte die Schmerzen, klebte die vorhandenen Pflaster, biss die Zähne zusammen und lief weiter, bis die Schmerzen so stark wurden, dass ich beim laufen zu straucheln begann... Gefährlich im Gebirge!!!!!

 

Und so saß ich am zweiten Tag des Projekts an einem kleinen Bachlauf und heulte. Ich steckte die Füße in's Wasser und starrte in's Leere. Was hatte ich getan? Was zum GEIER machte ich hier eigentlich? Was wollte ich beweisen? Und wem? Warum war ich wie eine Bekloppte losgelaufen? Warum hatte ich keine Pausen gemacht? Warum hatte ich meine Füße nicht besser behandelt? Was... tja... Was MACHTE ich hier eigentlich???

 

Nach ein paar Stunden heulen und Ratlosigkeit fiel es mir auf:

 

Ich versuchte etwas gaaaaaaaaaaaanz tolles zu tun. Und ich hatte als Kind gelernt, dass die Dinge nur dann gaaaaaaaaaaanz toll sind, wenn sie jenseits meiner persönlichen Grenzen liegen. Nämlich im Bereich von anderen, die viel viel toller sind als als ich... Und so hetzte ich mich bei meinem Vorhaben etwas TOLLES zu tun so sehr, dass ich anstatt die Schönheit der Natur zu genießen, frische Luft und Bewegung zu bekommen und mich zu erholen jetzt mit kaputten Füßen heulend am Wegesrand saß, weil ich ja unbedingt zwei Tagesetappen an einem Tag hatte bewältigen wollen...

 

Na ganz ganz TOLL!!!!!!!!!

 

 

Ich beendete die Wanderung für den Tag und nahm mir ein Zimmer. Ich heulte, duschte und beschloss die Sache zu überschlafen. Beim Zustand meiner Füße am nächsten morgen wusste ich es: Mit SPAẞ hätte DAS nichts zu tun. Nur mit zusammen gebissenen Zähnen und mit Durchhalteparolen um nicht zugeben zu müssen, dass ich hinwarf...

 

 

 

Und so sitze ich jetzt im Zug nach Hause, die Wanderschuhe stehen neben mir und sehen mich vorwurfsvoll an, während ich mich dumm fühle:

 

Ich habe jetzt keine ach-so-tollen Urlaubsgeschichten von Bergbesteigungen und in-Rekordzeit-durchs-Gebirge vorzuweisen und Tapferkeitsmedaillen für mit-blutigen-Füßen-weiter-gemacht gewinne ich auch keine. Ich bin nicht tooooooootal fit und gaaaaaaaanz tolle weitere Projekte habe ich keine.

 

ICH bin auf ganzer Linie gescheitert...

 

Oder?

Die Landschaft zieht vorbei, wie die Nebelfetzen in meinem Kopf vorbeiziehen. Und während ich die Gebirgslandschaft hinter mir lasse, fällt mir etwas auf:

 

Ich war nicht aufgebrochen, das Gebirge zu durchqueren. Ich wollte nicht Deutschlands fitteste Krebs-Patientin werden. Und ausprobieren, wie lange mich kaputte Füße tragen oder wie gut meine Selbstbeherrschung schon wieder ist, wollte ich auch nicht...

 

ICH war zu einem Selbstfindungsprojekt gefahren!!! Wollte lernen auf meine innere Stimme zu hören, wollte MICH besser kennen lernen - und ich HABE etwas erkannt.

 

Etwas wie ich hoffe sehr, sehr wichtiges für mich:

 

Nämlich, dass ich aufhören muss, die Dinge zu übertreiben.

Dies ist kein Wettbewerb, sondern mein Leben und es geht hier nicht um höher-weiter-besser - das war doch sowieso immer schon irgendwer anders - sondern darum ich selbst zu sein.

Dinge, die mich kaputt machen sind nicht TOLL sondern BESCHEUERT und deshalb sollte ich damit aufhören, aber fix.

Wenn etwas im Wanderführer als Tagesetappe angegeben wird, dann bedeutet das, dass es danach für einen Tag reicht, nicht dass ICH das doppelte laufen muss!!!

Urlaube sind zum genießen da, nicht um mich zu scheuchen, bis ich umfalle!!!

Und wenn ich konsequent versuche meine eigenen Grenzen zu ignorieren, dann ist das nicht GESUND, TOLL, beeindruckend und was-weiß-ich sondern es ist unvernünftig, ungesund und gefährlich...

 

 

Ich bin zu einem Selbstfindungsprojekt aufgebrochen und kehre mit einer wichtigen neuen Selbsterkenntnis zurück. Klingt gar nicht so schlecht, so gesehen...