#16 Von großen Plüschdrachen und bitteren Wahrheiten...

 

Vor ein paar Jahren durfte ich manchmal auf den Pflegesohn einer Freundin aufpassen. L*** hieß er.

L*** war drei als er zu ihr kam und er kam bereits mit Verhaltensstörungen. Ein überangepasstes Kind, das immer strahlte, immer tat was man ihm sagte, immer brav war. Immer. Es war leicht auf L*** aufzupassen, weil er alles tat was ich verlangte, immer an der Hand blieb und nie Widerworte gab. Es war leicht auf ihn aufzupassen…

 

Eigentlich…

 

Es war ein Abend wie andere Abende. Ich weiß gar nicht mehr, WAS schiefgegangen war, ich glaube er hatte einen Streit zwischen seiner Pflegemama und einer Freundin mitangesehen. Es war wie ein umgelegter Schalter.

 

*zack*

 

Ihr fragt Euch, wie überangepasste Kinder ausrasten? Es war ein beeindruckender Anblick. L*** weinte nicht. Er schrie nicht. Er blieb ganz ruhig. Er blieb ganz ruhig, aber er schlug wortlos und schweigend seine Kuscheltiere zusammen. Schlug mit einer Ernsthaftigkeit und einer brutalen Entschlossenheit, die ich keinem Dreijährigen zugetraut hätte.

Ich werde den Anblick, wie dieser kleine blonde Junge mit vollem Körpereinsatz einen Plüschdrachen, der größer war als er selbst, zusammenprügelte nie vergessen. Er schlug mit den Fäusten. Er knallte den riesigen Drachen gegen die Wand. Er trat in den Bauch.

Er prügelte brutal und mit aller Gewalt.

Mit aller Kraft.

Mit aller Entschlossenheit.

Schlug und trat und schlug. Gefühlt stundenlang.

 

Meine Freundin hatte mich gewarnt, dass so etwas passieren könne. Das sei okay, hatte sie gesagt, L*** dürfe das. Es sei ein Ventil…

 

Ich hatte genickt. Waren doch nur Kuscheltiere, nicht wahr?

 

Die Warnung war berechtigt gewesen, auch wenn sie mich nicht auf DIESEN Anblick hatte vorbereiten können. Aber das hätte wohl nichts gekonnt.

 

Mein kleiner L***, der eben noch so gern Feuerwehrautos angesehen hatte, der "Tante aus Marokko" singen und auf meinen Schultern reiten liebte, er war von einer Sekunde zur anderen zum Schläger geworden.

Er schlug und trat und schlug.

Schlug und trat und schlug.

Schlug und trat und schlug.

 

Und ich saß da. Hilflos. Ich hätte heulen können, aber ICH war der Babysitter. ICH war erwachsen, es stand MIR nicht zu, zu heulen, also heulte ich nicht. Ich hätte L*** gern den Drachen weggenommen. Hätte ihn gern auf den Arm genommen, hätte ihn gern festgehalten, hätte ihn gern getröstet, ich hätte gern…

 

Ich hätte gern sonstwas getan, aber ich wusste: L*** hatte entschieden wie ER mit der Situation umgehen wollte. Und ER wollte dieses Kuscheltier verprügeln.

Und so saß ich dort und schluckte die Tränen, während L*** tobte und ich ihm nicht helfen durfte.

 

Irgendwann war es ganz plötzlich genug, als sei nichts gewesen. Es gab Abendbrot. Und Gute-Nacht-Geschichte. Und freudige Begrüßung als die Pflegeeltern heimkamen (Ich hatte keine Lust gehabt ihn ins Bett zu schicken. Hatte ALLES durchgehen lassen, mir war alles recht gewesen, solange er nur wieder lachte. „Noch eine Geschichte vorlesen, mein Liebling? Klar, das mach ich doch gerne!!!“). Die Pflegemama brachte ihn ins Bett, ich ließ mir nochmal beteuern, dass es wirklich richtig gewesen war. Dass die Therapeutin dieses Verhalten wirklich unterstützte, dass ich wirklich nicht hätte-eingreifen-sollen. Und ich fuhr heim.

Beim nächsten Babysitten war alles wie immer. Spielplatz. Spagetti mit Tomatensoße. Schlafanzug. Zähneputzen. Gute-Nacht-Geschichte. Bett. Problemlos. Keine Widerworte.

Keine Tränen.

 

So war L***.

 

Ich denke oft an ihn, wenn ich höre, wie ich nicht reden, oder was ich nicht tun solle. Ich denke oft an ihn, denn ich habe damals eins gelernt:

 

Es fiel mir schwer mitanzusehen, welche Aggressionen, welche Verzweiflung in diesem kleinen Jungen steckten.

 

ICH hätte es lieber gesehen, wenn er Fußball gespielt oder Polizeiautos bestaunt hätte. Ich wäre mit ihm zum tollsten Ort der Stadt gefahren, um DAS nicht mitansehen zu müssen.

Ich hätte das tollste Abendessen gemacht, hätte die tollste Geschichte erfunden, hätte mir ein tolles Abenteuer für ihn überlegt, ich wäre überhaupt zum tollsten Babysitter der Welt mutiert. Sofort und mit Begeisterung, wenn er nur aufgehört hätte…

 

 

Aber die Wahrheit ist: Es wäre egoistisch gewesen. Denn ich hätte es getan, weil ICH nicht länger sehen wollte, wie dieser dumme Plüschdrache gegen die Wand geknallt wurde. Wieder und wieder und wieder. Weil ICH lieber verdrängt hätte, was in L*** vorging, weil ICH mir einreden wollte, alles sei gut.

Aber es war nicht alles gut. Und L*** brauchte sein Ventil und wenn ER sich so fühlte, dann war es meine Aufgabe DAS zu ertragen. DIESEN Anblick. 

 

 

Ich denke oft an L***, wenn ich höre, was ICH nicht über MICH sagen, wie ICH nicht mit MEINEM Körper umgehen soll. Ich denke oft an ihn, weil er mir etwas beigebracht hat: Die Menschen, die mir sagen, ich könne das nicht tun, solle so nicht reden, dürfe so nicht denken… Diese Menschen sagen das nicht aus Sorge um MICH. MIR tut es gut die Wahrheit auszusprechen. Der Mensch braucht Ventile, ohne wird es viel schlimmer. Sie sagen das, weil es schwer ist, mitanzusehen, WIE tief die Verzweiflung sitzt und WIE schlimm es wirklich ist.

 

 

Sie sagen es, weil sie keine Pflegemama vorgewarnt hat, dass so etwas passieren kann.

 

 

Sie sagen es, weil sie sich gern einreden möchten, dass alles nicht so schlimm ist.

 

 

Sie sagen es, weil es schwer ist mitanzusehen, wie ein lebensgroßer Tabaluga-Verschnitt gegen den Türrahmen knallt. Wieder und wieder und wieder.